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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
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bezogen,
bedrückten ihn mehr als je. Mühevoll richtete er sich
auf. Das alte Weib war bei dem halberloschenen Feuer eingeschlafen. Mit
kraftlosem Arm ergriff er ein Holzscheit und warf es auf die Glut. Dann
hüllte er sich in einen Blaufuchsmantel und trat vor die
Hütte.
    Die frische Nachtluft tat ihm wohl. Der Mond schien nicht. Vom
Westen zogen Wolken heran, aber im Süden und über
seinem Haupte zitterten geheimnisvoll Tausende von Sternen, und Rahi
meinte, daß sie auf diese Weise quer durch den Weltenraum
miteinander in Verbindung ständen. Er lauschte dem Raunen der
Wellen des Flusses, die selbst im Dunkel der Nacht nicht
aufhörten, ihre flüchtigen Empfindungen
auszutauschen. Seine ewige Klage flüsterte das Schilf dem
Winde zu, der davoneilte, um sie den Bäumen auf den
Hügeln weiterzusagen. Konnte man zweifeln, daß die
ganze Welt am gleichen Leben teilhat wie wir? Wieder ergriff die
feierliche Erhabenheit dieses ihm so vertrauten Landschaftsbildes den
Greis. Er wußte, daß bald sein Geist den
Körper verlassen werde, doch lange würde er noch um
diese Stätten kreisen, wo sein ganzes Leben verflossen war.
Ihm gefiel dieser Gedanke. Was die Menschen Tod nannten, schreckte ihn
kaum. Man stirbt nicht, dachte er...
    Sein umherschweifender Blick blieb an den großen
Hängen haften, die rechts von ihm tausend Schritte weit
ragten. Trotz der Entfernung sah er einzelne Feuer. Das führte
ihn zu den Sorgen der Gegenwart zurück. Die dreißig
Jahre seiner Führerschaft waren ein ununterbrochener Kampf
gewesen. Die Änderungen in der Witterung, die unter seinen
Vorgängern noch unmerklich gewesen waren, hatten unter seiner
Herrschaft in starker Weise zugenommen und bei Mensch und Tier
große Erregung hervorgerufen. Welche feindlichen
Mächte waren es, die solche Störungen herbeiriefen?
Um sie zu bekämpfen, hätte man sie kennen
müssen, und Rahi mußte sich gestehen, daß
sein sonst so unfehlbares Wissen hier versagte. Auch das letzte Rudel
Renntiere hatte, der schneelosen Winter überdrüssig,
das Weite gesucht.
    Wie sollte man sie in dieses Tal
zurückführen? Trotz der stärksten
Beschwörungen wanderten sie dem Norden zu. Das war Tatsache,
die furchtbare Tatsache, der Rahi gegenüberstand, und die
übrigens allen seinen Leuten bekannt war. Und wenn man sie
durch Zauberkraft nicht mehr zurückzuholen vermochte
– sollte man ihnen nicht nachziehen? Das war eine schwere
Entscheidung, vor der der Häuptling zurückschreckte.
Seit so langer Zeit war der Stamm in diesem Tale angesiedelt,
daß selbst die erfahrensten Weisen sie nicht zu berechnen
vermochten. Wo würde man gleich gute Zufluchtsstätten
finden wie hier, die das Leben jedes einzelnen so trefflich
schützten? Auf fünf Tagemärsche im Umkreis
gab es für die Leute vom Fluß kein Geheimnis im
Lande. Die geringfügigsten Hilfsquellen kannten sie ebensogut
wie die Lagerplätze jedes Wildes, seine Fährten und
Weiden. Ihre Erinnerungen, ihre Überlieferungen und
religiösen Gebräuche waren mit diesen Gegenden
unlösbar verbunden. Die heiligen Grotten mit ihren Bildern
konnte man nicht mit sich führen. Durfte man solche
Schätze zurücklassen? Wie sollte man ohne sie leben?
Andere würden sich ihrer bemächtigen. Wer
würde es wagen, eine Auswanderung anzuregen, die dem
geschwächten Volke vielleicht den völligen Untergang
bringen konnte! Die Erinnerung an die große Flucht, die den
Ahnen, seine Söhne und Töchter in dieses Tal
geführt hatte, war lebendig geblieben. Rahi würde
nicht den Mut haben, seinen Stamm solchen Strapazen und so grausamen
Entbehrungen auszusetzen. Die Lösung dieser Frage
überließ er seinem Nachfolger.
    »Was mich betrifft – meine Tage sind
gezählt«, so dachte er, als er wieder seiner
Hütte zuschritt, vor der das Feuer jetzt in hellen Flammen
prasselte.
    Er streckte sich wieder auf sein Lager hin, doch vermochte er
nicht einzuschlafen.
    Die Kunde von der Erkrankung des Häuptlings hatte
sich rasch in den Wohnstätten verbreitet und erregte alle
Angehörigen des Stammes. Zwar liebte man ihn nicht und sah
vielmehr in ihm die Ursache allen Unglücks, das den Stamm
bedrängte, doch war die Möglichkeit seines nahen
Todes beunruhigend, denn vielleicht würden nach seinem Ableben
noch andere Übel über das Volk hereinbrechen. Man war
in großer Sorge. Hatte man auch nichts versäumt, um
den Geist dieses mächtigen Mannes versöhnlich zu
stimmen?

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