Ende einer Welt
Einzeln kamen sie alle, die Söhne und
Töchter des Bären, zu der Terrasse, auf der Rahi im
Sterben lag. Der eine brachte ihm eine Tierhaut, der andere Fleisch,
dieser eine Muschel. Bei der Hütte angelangt, legten sie ihre
Gabe nieder, verweilten einen Augenblick, um die
Beschwörungsformeln zu murmeln, und stiegen dann langsam
wieder hinunter. Nur eine alte Frau entschloß sich nach
einigem Zögern, die Schwelle der Hütte zu
überschreiten. Sie ging bis zu dem auf seinem Lager
ausgestreckten Häuptling, legte ein Stück
geräucherten Lachs in seine Hand und sprach, in ihrer Weise
die Gefühle aller in Worte kleidend: »Du siehst,
Rahi, wie wir dich behandeln. Geschenke haben wir dir gebracht. Nun sei
auch du zu uns gut, und wenn du jetzt stirbst, dann kehre nicht wieder
zurück.«
Rahi hatte indessen das Bewußtsein nicht verloren. Er
war sehr schwach und schlummerte viel. Nahrung nahm er keine mehr.
Manchmal, wenn er einen der Weisen neben seinem Lager sah, wechselte er
einige kurze Worte mit ihm. Die Witterung war das einzige, womit sein
Geist sich beschäftigte. Wenn der Weise ihm meldete,
daß es stürmisch sei, und daß es gedonnert
habe, wurde Rahi erregt und wollte zu seinem Stab greifen.
Unter den Männern des Stammes wuchs die Erregung. Wer
sollte bestimmt werden, die bald verwaiste Würde zu bekleiden?
Die Wahl mußte unverzüglich erfolgen, denn es waren
wichtige Vorschriften zu beachten, die nur der Nachfolger bei dem Tod
des Häuptlings erfüllen durfte. Und auch sonst,
welche Gefahr bedeutete es, den Stamm während einiger Tage
ohne Führer zu lassen!
Die Versammlung fand in einer geräumigen
Wohnstätte, in der Nähe der Fischerhütten,
statt. Nachdem Frauen und Kinder fortgejagt worden waren, versammelten
sich die Männer inmitten der Terrasse, um Rat zu halten. Bei
ihrer vorgeschrittenen Zivilisation überließen die
Leute vom Fluß die Wahl ihres Oberhauptes nicht dem Zufall,
wie so viele barbarische Völker. In unbeeinflußter
Überlegung wählten sie den zu ihrem Führer,
dessen Klugheit und Charaktereigenschaften sie erprobt hatten. Dem so
Erwählten verliehen die Weisen durch die nötigen
Zeremonien die mystischen Kräfte, die er noch nicht
besaß. Nach langer Beratung, die ernst und ruhig verlief,
einigten sich die Versammelten auf Boro, den betagten Freund Nos.
Er war zugegen. Wie es Überlieferung forderte, wies
er dieses hohe Amt zurück. Die Männer drangen in ihn.
Er lehnte die Ehrung ein zweites Mal ab. Die Söhne des
Bären gerieten in Zorn und erhoben die Waffen gegen ihn. Da
erst erklärte Boro seine Zustimmung, womit er zeigen wollte,
daß er um diese Stelle nicht gebuhlt habe und nur dem Zwange
der Gewalt weiche. Der Älteste der Weisen überreichte
ihm einen Führerstab, auf dem das Zeichen der
höchsten magischen Gewalt eingeritzt war. Dann begab sich Boro
in die Hütte Rahis und kauerte, ohne ein Wort zu sprechen, zu
Häupten seines Lagers nieder.
Rahi, das Gesicht zur Wand gekehrt, sah ihn nicht.
So verging noch ein ganzer Tag.
Am nächsten Tage zeigte sich bei Sonnenuntergang eine
Änderung im Zustande des Kranken. Geschwächt durch
das Fieber und vom Leiden ausgehöhlt, war sein Gesicht
totenblaß. Abgerissene Worte kamen über seine Lippen.
»Die Renntiere ... dort ... man muß ihnen nach ...
wir sterben hier!...« Einen Augenblick später sagte
er, nachdem er seine Felldecken weggeschleudert hatte, mit
verzweifeltem Tonfall: »Das Wetter ist heiß, sehr
heiß!« Er knirschte vor Wut mit den Zähnen.
Dann beruhigte er sich und schien zu schlafen.
Während des Schlummers gewannen seine Züge wieder
ihre Ruhe zurück. Er war sehr bleich. Die Weisen betrachteten
ihn angstvoll, und Boro näherte sich ihm. Plötzlich
erschauerte Rahi. Seine hageren Hände suchten die Decke aus
Fuchsfell wieder an sich zu ziehen. Seine schmalen Lippen entspannten
sich. Er versuchte zu lächeln. Die Weisen staunten
darüber, diesen Sterbenden zum Leben zurückkehren zu
sehen. Vor den leuchtenden Augen Rahis, die sich bald für
immer schließen sollten, zogen jetzt weite Länder,
glitzernd voll Schnee, vorüber.
Er richtete sich auf und stieß einen Schrei aus.
»Es friert! Es friert!« murmelte er.
Er fiel zurück und starb glücklich.
Boro hatte sich über ihn geneigt und fast Mund an
Mund den letzten Atemzug des Sterbenden, der nicht verloren gehen
durfte, empfangen.
Die Leute vom Fluß begruben ihre Toten nicht.
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