Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
Vom Netzwerk:
Sobald
die Sterberiten, die durch Wochen, ja manchmal durch Monate wiederholt
wurden, erfüllt waren, war die Seele des Gestorbenen
versöhnt, und er zog in das Reich der Abgeschiedenen seines
Stammes ein. Den Körper legten sie auf einen Hügel
und überließen ihn den wilden Tieren.
    Doch der Leichnam eines Häuptlings von der Bedeutung
Rahis mußte mit ganz besonderen Ehren ausgezeichnet und
begraben werden.
    Die Totenwache begann. Auf ihren Fersen kauernd, riefen die
drei Weisen, einer nach dem anderen, die Seele des Toten an.
    Der erste sagte: »Warum bist du von uns
gegangen?« Der zweite: »Fern von uns wirst du nicht
glücklich sein!« Der dritte: »Du wirst in
der Finsternis leiden!« Und nach einem Schweigen sprachen sie
alle zugleich: »Kehre zurück, nimm deinen Platz
wieder ein!« – Die Nacht brach herein. Scheite
brannten vor dem Eingange der Hütte. Sie beleuchteten Rahi,
der auf dem Rücken lag, und dessen Mund weit geöffnet
war, damit die umherirrende Seele, wenn sie dem Zureden der Weisen
folgen würde, ihre Wohnstätte wieder in Besitz zu
nehmen vermöchte. Seine Augen waren nicht geschlossen, damit
sie die Flüchtige sehen konnten, wenn sie über ihnen
vorbeiflog. Neben Rahi lauerte Boro auf die Rückkehr des
entflohenen Geistes. Die Weisen blieben, auf ihren Fersen hockend, im
Schatten. Während der ganzen Nacht wiederholten sie ihre
Litaneien. Sie sprachen zu der irrenden Seele:
    »Du ziehst tausend Gefahren entgegen!«
    »Dornen werden dich wund reißen!«
    »Wilde Tiere werden dich fressen!«
    Und immer nach einiger Zeit vereinigten sich die Stimmen aller
drei zu beschwörendem Flehen:
    »Kehre zurück, nimm deinen Platz wieder
ein!«
    Als die Sonne aufging, neigte Boro sich über den
Leichnam. Er hielt einen Stab aus Renntiergeweih in der Hand. Dreimal
schlug er kräftig auf den Schädel Rahis. Dreimal
fragte er:
    »Bist du da?«
    Da er keine Antwort erhielt, schloß man, daß
die Seele Rahis den Körper endgültig verlassen habe
und daß die Beerdigungszeremonien einzuleiten seien.
    Von jetzt ab galt es, eine ganze Reihe von
Vorsichtsmaßregeln zu beachten.
    Es war untersagt, den Namen Rahis auszusprechen, weil dies
allein genügt hätte, seine Seele
zurückzurufen, die schon eine Reise angetreten hatte, die es
angenehm zu gestalten galt. Hörte sie sich angerufen,
käme sie zurück, um die Lebenden zu quälen.
    In der Nähe der Beerdigungsstätte
mußte unausgesetzt ein lebhaftes Geräusch erzeugt
werden, um die Seele zu hindern, sich einzuschleichen.
Schließlich war es erforderlich, daß die Verwandten
des Verschiedenen sofort ihre Kleidung und soweit als möglich
auch ihr Gesicht veränderten, um von der
rachsüchtigen Seele des Toten nicht erkannt zu werden, falls
sie für erduldetes Unrecht jetzt Vergeltung üben
wollte. Rahi hatte weder Frau noch Kinder. Boro, die Weisen, das alte
Weib und der Knabe, die für ihn gesorgt hatten, malten sich
breite schwarze Streifen auf Kleider und Gesicht.
    Eine seichte Grube wurde an einem feuchten Platze ausgehoben,
und hier wurde der Körper in hockender Stellung, wie sie den
Leuten am Fluß als Ruhestellung gewohnt war, begraben. Da man
der Meinung war, daß Feuchtigkeit ohne Licht die Zersetzung
der Fleischteile beschleunige, wurde die Erde, die ihn bedeckte, mit
Wasser begossen. Man brachte ihm jeden Tag Beeren, selbst Fleisch,
hauptsächlich aber Blut von getöteten Tieren. Alles
geschah, um der umherirrenden Seele keinerlei Grund zu Klagen zu geben.
Wäre dies nicht geschehen, hätte man
unermeßliches Übel zu befürchten gehabt.
Während drei Monaten wurden die Zeremonien täglich
wiederholt.
    Als man die sterblichen Reste des Häuptlings dann
ausgraben wollte, erklärte einer der Weisen, der Verstorbene
sei ihm in der vergangenen Nacht erschienen und habe den Wunsch
ausgesprochen, noch einen Monat in der Grube zu bleiben. Seine Bitte
wurde gewährt.
    Nach Ablauf dieser Zeit wurde die Erde weggeschafft. Man fand
die Knochen vollkommen entblößt. Die Weisen
bestrichen das Skelett mit roter Ockerfarbe – der
schönsten Farbe, die sie kannten –, damit die
Ehrung, die dem Toten zuteil geworden, in unvergänglicher Form
erhalten bleibe. Die endgültige Beisetzung erfolgte in einer
in der Nähe des Flusses gelegenen Höhle.
    Noch ein ganzes Jahr wurden Geschenke gebracht und die
Litaneien gemurmelt, in denen der Name des Verstorbenen nicht
ausgesprochen werden durfte. »Du,

Weitere Kostenlose Bücher