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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
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das Opfer von seinem Herzen gebilligt wird, denn niemals
vergißt er, daß er der Vater ist; sich verteidigen
– weil es wesentlich ist, daß der ganze Stamm das
einstige Verbrechen erneuere. Nur auf diese Weise vermag der Stammvater
in jedem einzelnen seiner neu belebten Kinder wieder zu
erstehen.«
    Wieder folgt ein Schweigen, dann vermehren sich die
Trommelschläge. Wie wird sich dieses Drama der für
das Heil seines Volkes erduldeten Leiden weiter entwickeln?
    Die Stimmen der Weisen erheben sich von neuem. Sie verraten
die Erregung, die sich ihrer allein schon bei der Wiedergabe dieser
Geschehnisse bemächtigt.
    »Die Söhne haben getötet. Das Opfer
ist vollbracht. Das mystische Mahl hat stattgefunden. Frei und
mächtig sind sie, wie es der Vater einst war. Sie sprechen als
Gebieter. Was erwarten sie noch, um sich ihrer Rechte zu erfreuen? ...
Sie finden ein unerwartetes, unüberwindliches Hindernis vor
sich: die Gesetze, die derjenige aufgestellt hat, der von ihnen
getötet wurde. Seit er nicht mehr ist, haben diese geheiligte
Bedeutung erhalten. Keiner würde es wagen, sie zu
übertreten.« – Aus dieser Zeit stammt das
Verbot, Ehen innerhalb des Stammes, mit den Mädchen gleichen
Blutes, zu schließen. Von da ab beginnen die abenteuerlichen
Raubzüge nach den Frauen ferner Stämme. Durch die
Weisheit des Ahnen, durch seinen Willen, der zum Gebot wurde, ist eine
neue Form des menschlichen Zusammenlebens geschaffen. Die Menschen
hören auf, in schändlichen Vermischungen wie die
Tiere zu leben: die Familie ist begründet.
    Neuerliches Schweigen. Man hört nichts als das
Prasseln der ins Feuer geworfenen Scheite, die von der Glut gemartert
werden.
    Die Stimmen erheben sich wieder und singen.
    »Das Bündnis zwischen dem Ahnen und seinem
Volke, das die von ihm erlassenen Gesetze achtet, ist besiegelt. Wenn
schweres Unglück den Stamm heimsucht, wird nach den alten
Gesetzen das Mahl der Wiedervereinigung erneuert. Der
Höhlenbär, dieser Koloß, in dem der
unsterbliche Geist des Ahnen weiterlebt, wird geopfert. Diesmal aber
hat er zweifellos entschieden, daß die gegenwärtigen
Schicksalsschläge das überstiegen, was die Seinen
ertragen konnten, und ist aus eigenem Antrieb gekommen, um sich dem
Stamm in der heiligen Grotte, die er einst bewohnte, zu
opfern.«
    Die gleichmäßigen Trommelschläge
sollen die ergreifenden Augenblicke darstellen, die er durchlebt, der
sich opfert. Schon wird im Osten ein heller Schimmer sichtbar, bald
wird der Tag anbrechen.
    Noch eines wird hinzugefügt:
    »Die Wiedervereinigung wird nicht nur den einzelnen
Menschen ihre Kräfte zurückgeben, sondern auch den
Zauberformeln selbst, die ebenso machtlos geworden sind wie diejenigen,
die sie gebrauchen wollen. Mit diesen neuen Kräften
ausgestattet aber werden der Häuptling und die Weisen so wie
einstmals ihre Macht über die Natur ausüben
können, und sie werden der verhaßten Herrschaft der
Rundschädel ein Ende bereiten.«
    Im Geiste Nos vermengen sich die Erscheinungen der vergangenen
Nacht mit jenen, die er jetzt vor Augen hat. Der Ahne erscheint ihm im
kalten Morgennebel, und sitzt doch zugleich vor der Hütte an
Boros Platz. No erlebt nochmals seinen schweren Lauf quer durch das
Land: er hört das mächtige Schnauben hinter sich ...
Und die Jagd, an der alle Männer teilnehmen, die Jagd, bei der
man kaum mehr weiß, ob der Bär vor ihnen flieht oder
ob er sie führt ... No erschauert vor Schrecken und Freude...
    Wie wird der Ahne diese Probe bestehen? Ein Lichtstrahl vom
Himmel über den Gipfeln der Berge. Die Sonne geht auf. Das
Drama beginnt.
    Frauen, Greise und Kinder verlassen schon die Hütten.
Die Mädchen schließen sich ihnen an. Girlanden, die
sie gewunden haben, umschlingen ihre Reihen. Das ganze Volk versammelt
sich unterhalb der Häuptlingsterrasse in der Nähe des
Flusses.
    Kaum sind sie angelangt, ertönen schon
Hörner und Trommeln. Der Bärenahne wird
herbeigeführt. Doch in welchem Zustand? Um jede seiner Tatzen
ist ein Riemen aus so festem Leder geschlungen, daß selbst ein
Mammut ihn nicht zerreißen könnte. Zehn
Armlängen mißt jeder der Lederriemen, und je sechs
Männer, unter den Stärksten des Stammes
gewählt, halten das Ende. Doch die Kräfte des Ahnen
sind groß, und der plötzliche Ruck eines seiner Beine
genügt, um alle sechs Männer zu Boden zu werfen. Die
anderen leisten Widerstand und machen die Wut des Bären
unschädlich,

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