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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
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dessen Brummen die zurückweichende Menge
vor Angst zittern macht. Manchmal bleibt er stehen und
läßt keinen der Männer weiter. Es bedarf
ihrer vereinten Kräfte, der Steine, die man auf ihn wirft,
betäubender Schreie und herabprasselnder Stockhiebe, um ihn
vorwärtszubringen.
    Sie zerren ihn zwischen zwei Birkenstämme. Die
Lederriemen der beiden Hinterbeine werden an ihnen befestigt. Sie
werfen ihm eine Leine um den Hals. Zwanzig Männer ergreifen
ihn und stoßen ihn herum. Jetzt liegt er auf dem
Rücken, die vier Tatzen auf den Boden geheftet, die Schnauze
gegen den Himmel gestreckt, die Augen schmerzerfüllt, die
Haare von Schweiß durchweicht und zu Büscheln
verklebt. Er ächzt dumpf. Sein Leiden rührt sogar
diese Leute, die ein hartes Leben gewohnt sind, die täglich
gezwungen sind, Tiere zu töten, um sich von ihnen zu
nähren, und die für Schmerzen anderer wenig
Empfindung haben. Doch niemand vergißt, wessen Blut in den
Adern dieses Tieres fließt, das zum Heile aller geopfert
werden soll.
    Jetzt treten die Mädchen mit ihren Laubgewinden vor.
Sie schmücken die Bäume, an denen das Opfer
festgebunden ist, und die ineinander geschlungenen Blätter
bedecken den riesigen, bemitleidenswerten Schädel. Sie werfen
sie zwischen die gespreizten Tatzen auf den bebenden Körper.
Sie stimmen einen Trauerchor zum Takt der dumpfen Trommeln an. Greise,
Frauen, Männer und junge Leute antworten ihnen abwechselnd. So
werden die Tugenden des Stammvaters im Augenblick, da er sterben soll,
durch den Wechselgesang seiner Kinder gepriesen.
    Tiefes Schweigen folgt, nur von dem klagenden Brummen des
Bären unterbrochen.
    Was erscheint jetzt unter der Terrasse des
Häuptlings? Ein Bär, auf seinen
Hinterfüßen aufgerichtet, ein Bär, umgeben
von den drei Weisen. Es ist Boro, der in dieser Gestalt erscheint, um
vor allen Augen die Blutsverwandtschaft zwischen dem Opfernden und dem
Opfer zu betonen.
    Vor dem Ahnen hebt er den Arm und spricht die vorgeschriebenen
Worte:
    »Gewinnet zurück die verlorenen
Kräfte durch den Akt der Wiedervereinigung.«
    Er senkt seine Hand, die mit einem scharfen Stein bewaffnet
ist. Mit einem einzigen, kraftvoll geführten Streiche
durchschneidet er das zottige Fell von der Kehle bis zum Unterleib. Die
Weisen fassen die Haut auf beiden Seiten und trennen sie mit Hilfe des
Steines ab. Ströme von Blut sprudeln hervor. Boro taucht den
Arm in die offene Brust und reißt das noch zuckende Herz
heraus. Er beißt mit aller Kraft hinein und gibt es den Weisen
weiter.
    Schon schreitet er davon. Jetzt stürzt sich das ganze
Volk auf das Opfer. Jeder reißt ein Stück des
zuckenden Fleisches ab, von dem das warme, kostbare Blut niedertropft.
Man würde einander töten, um unter den ersten zu
sein. Aber jeder zieht sich, sobald er ein Stück erlangt hat,
zurück, und ehe die Sonne den Zenit erreicht, haben alle an
der Quelle des Lebens getrunken.
    Nichts bleibt von dem Bären als beschmutzte Haut und
Knochen, die man noch am gleichen Abend verbrennt, und deren Asche der
Wind verweht.
    Ein Jahr verging.
    Große Erschlaffung war der Erregung, die die Opferung
des Stammvaters verursacht hatte, gefolgt. Nichts änderte
sich. Die verschwundenen Renntiere kehrten nicht wieder. Die Leute vom
Fluß wurden mit jedem Tag kraftloser, und die
Rundschädel gediehen. Nie sah man fröhlichere Leute
ein angenehmeres Leben führen als diese. Den Sommer
verbrachten sie in ihren Lagern auf freiem Felde, und sobald die
schlechte Witterung einsetzte, kehrten sie in den Schutz der
Felswände zurück. Hoch befriedigt waren sie von
dieser Gegend, die sie für sich ausgesucht hatten. Jedem, der
es hören wollte, bestätigten sie es. Sie dachten
nicht daran, jemals wieder fortzuziehen. Nach so viel Jahren
Nomadenleben waren sie seßhaft geworden. Das Klima behagte
ihnen. Ihre Kinder, von denen es nur so wimmelte, entwickelten sich
hier prächtig.
    Das Wild war zahlreich. Die Hunde brachten einen Wurf Junge
nach dem anderen zur Welt, die sich auf den Terrassen, Staubwolken
aufwirbelnd, tummelten und balgten. Sie verunreinigten die
Hütten, kugelten immer zwischen den Beinen der Leute und
erfüllten die Umgebung Tag und Nacht mit ihrem heiseren
Gekläff. Ihre Herren schienen das gar nicht mehr zu merken,
doch die Söhne des Bären litten sehr darunter.
    Noch unerträglicher aber war ihnen, ihre Kinder mit
den jungen Hunden spielen zu sehen und beobachten zu

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