Ender 4: Enders Kinder
mit Gehirnschaden gefangen, hatte er den Tod herbeigesehnt; dann, als seine erste Reise ins Außen ihm die Möglichkeit beschert hatte, seinen Körper im perfekten Zustand jugendlicher Vollendung neu zu erschaffen, betrachtete er jeden Augenblick, jede Stunde, jeden Tag seines Lebens als unverdientes Geschenk. Er würde es nicht vergeuden, aber er würde auch nicht davor zurückschrecken, es zum Wohle der anderen aufs Spiel zu setzen. Aber wer außer ihm konnte seine fast beiläufige Gleichgültigkeit sich selbst gegenüber teilen?
Die junge Valentine war, wie es schien, in jedem Sinne dafür prädestiniert. Miro hatte gesehen, wie sie zugleich mit seinem neuen Körper ins Sein trat. Sie besaß keine Vergangenheit, keine Familie, keine Bindungen an irgendeine Welt, es sei denn durch Ender, dessen Geist sie erschaffen hatte, und durch Peter, ihr Mitgeschöpf. Ach, und vielleicht mochte man auf den Gedanken kommen, sie sei mit der ursprünglichen Valentine, »der echten Valentine«, verbunden, wie die junge Val sie nannte; aber es war kein Geheimnis, daß die alte Valentine keinerlei Bedürfnis verspürte, auch nur einen Augenblick in Gesellschaft dieser jugendlichen Schönheit zuzubringen, die sie durch ihre bloße Existenz zu verspotten schien. Außerdem war die junge Val als Enders Vorstellung von vollendeter Tugend erschaffen worden. Nicht nur war sie ungebunden, sie war auch auf natürliche Weise altruistisch und durchaus gewillt, sich zum Wohle anderer aufzuopfern. Wann immer Miro in die Fähre stieg, war demnach die junge Val als seine Begleiterin, seine verläßliche Assistentin, seine ständige Hilfe mit von der Partie.
Aber nicht als seine Freundin. Denn Miro wußte sehr genau, wer oder was Val in Wirklichkeit war: ein verkleideter Ender. Keine Frau. Und ihre Liebe und ihre Loyalität zu ihm waren Enders Liebe und Loyalität, oftmals erprobt, verläßlich, aber eben die Enders, nicht ihre eigene. Sie hatte überhaupt nichts eigenes an sich. Obwohl sich Miro an ihre Gesellschaft gewöhnt hatte und entspannter mit ihr lachte und scherzte als mit irgendwem sonst in seinem bisherigen Leben, vertraute er sich ihr nicht an, gestattete es sich nicht, eine Zuneigung zu ihr zu empfinden, die tiefer ging als Kameradschaft. Falls sie den Mangel an persönlicher Nähe zwischen ihnen bemerkte, äußerte sie sich nicht dazu; falls er ihr wehtat, wurde der Schmerz niemals sichtbar.
Was sichtbar wurde, war ihre Freude über ihre Erfolge und ihr Beharren darauf, daß sie sich noch härter antrieben. »Wir können keinen ganzen Tag auf eine einzelne Welt verschwenden«, hatte sie gleich zu Anfang gesagt und es dadurch bewiesen, daß sie sie einen Arbeitsplan einhalten ließ, der drei Reisen pro Tag für sie vorsah. Nach diesen drei Reisen kamen sie heim in ein Lusitania, das schon still vor Schlaf war; sie schliefen auf dem Schiff und sprachen nur mit anderen, um sie vor speziellen Problemen zu warnen, denen sich die Kolonisten auf den neuen Welten, die sie an diesem Tag gefunden hatten, wahrscheinlich gegenübersehen würden. Und der Drei-Planeten-pro-Tag-Plan galt nur für Tage, an denen sie sich mit aussichtsreichen Planeten beschäftigten. Wenn Jane sie zu Welten beförderte, die ganz offensichtlich Nieten waren – Wasserwelten beispielsweise oder solche, die noch kein Leben trugen –, sprangen sie rasch weiter und überprüften die nächste Kandidatenwelt, und wieder die nächste, an diesen entmutigenden Tagen, wenn nichts zu klappen schien, manchmal fünf oder sechs. Tag um Tag trieb die junge Val sie bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, und Miro akzeptierte ihre Führerschaft in diesem Aspekt ihres Umherreisens, weil er wußte, daß es nicht anders ging.
Seine wirkliche Freundin indes besaß keine menschliche Gestalt. Für ihn wohnte sie in dem Juwel in seinem Ohr. Jane, das Flüstern in seinem Geist, wenn er des Morgens aufwachte, die Freundin, die alles hörte, was er subvokalisierte, die seine Bedürfnisse kannte, bevor er sie selbst registrierte. Jane, die all seine Gedanken und Träume teilte, die während seiner schlimmsten Zeiten als Krüppel bei ihm geblieben war, die ihn ins Außen gebracht hatte, dorthin, wo er wiedergeboren werden konnte. Jane, seine treueste Freundin, die bald sterben würde.
Das war ihr wirklicher Stichtag. Jane würde sterben, und dann, von einem Augenblick zum anderen, würde es mit dem Sternenflug vorbei sein, denn es existierte kein anderes Wesen, das auch nur über die
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