Ender 4: Enders Kinder
sich unter dem heller werdenden Himmel auf den Weg machte, umherwandernd zwischen den anderen Frühaufstehern, Leuten, die ihren eigenen Angelegenheiten nachgingen und von denen nur wenige ihn kannten oder auch nur von seiner Existenz wußten. Da er ein Sprößling der seltsamen Ribeira-Familie war, hatte er im ginásio nicht viele Kinderfreundschaften geschlossen; da er sowohl brillant als auch schüchtern war, war er im colégio sogar noch weniger von den lauten, übermütigen Jugendfreundschaften eingegangen. Seine einzige Freundin war Ouanda gewesen, bis sein Eindringen in die Absperrung rings um die menschliche Kolonie einen Hirnschaden bei ihm zurückbleiben ließ und er sich weigerte, selbst sie noch länger zu sehen. Dann hatte seine Reise hinaus ins All zu seinem Treffen mit Valentine die wenigen schwachen Bindungen gekappt, die zwischen ihm und der Welt seiner Geburt noch verblieben waren. Für ihn waren es nur ein paar Monate in einem Sternenschiff gewesen, doch als er heimkehrte, waren Jahre vergangen, und nun war er das jüngste Kind seiner Mutter, das einzige, dessen Leben noch gar nicht richtig begonnen hatte. Die Kinder, die er einst gehütet hatte, waren Erwachsene, die ihn wie eine nostalgische Erinnerung aus ihrer Kindheit behandelten. Nur Ender war unverändert. Egal, wie viele Jahre vergangen waren. Egal, was geschehen war. Ender war immer noch derselbe.
Ob das immer noch zutraf? Konnte er sogar jetzt noch derselbe Mensch sein, auch wenn er sich in einer Zeit der Krise zurückzog und sich in einem Kloster verbarg, nur weil Mutter schließlich dem Leben entsagt hatte? Miro kannte den groben Abriß von Enders Lebensgeschichte. Im zarten Alter von fünf Jahren aus seiner Familie herausgerissen. Zur Kampfschule in der Erdumlaufbahn gebracht, wo er sich als die letzte Hoffnung der Menschheit in ihrem Krieg gegen die unbarmherzigen Invasoren erwies, die man die Krabbler nannte. Als nächstes zum Flottenkommando auf Eros gebracht, wo man ihm zwar sagte, er sei nun in der Fortgeschrittenenausbildung, wo er aber in Wirklichkeit, ohne es zu ahnen, Lichtjahre entfernt die realen Rotten befehligte, wobei seine Befehle über Verkürzer übertragen wurden. Er hatte diesen Krieg durch seinen durchdringenden Verstand und, zuletzt, durch den absolut skrupellosen Akt gewonnen, die Heimatwelt der Krabbler zu zerstören. Nur, daß er dachte, es sei ein Spiel.
Dachte, es sei ein Spiel, während er aber zugleich wußte, daß dieses Spiel eine Simulation der Wirklichkeit war. Im Spiel hatte er sich dazu entschlossen, das Unsagbare zu tun; für Ender wenigstens bedeutete das, daß er nicht frei von Schuld war, als das Spiel sich als real herausstellte. Auch wenn die letzte Schwarmkönigin ihm verziehen und sich, in einen Kokon eingesponnen, in seine Obhut begeben hatte, konnte er sich nicht davon freimachen. Er war nur ein Kind gewesen, das tat, wozu Erwachsene es verleitet hatten; aber irgendwo in seinem Herzen wußte er, daß auch ein Kind schon eine reale Person ist, daß die Handlungen eines Kindes reale Handlungen sind, daß selbst ein kindliches Spiel nicht ohne einen moralischen Kontext ist.
Noch bevor die Sonne aufgegangen war, sah Miro sich deshalb Ender gegenüber, während sie rittlings auf einer Steinbank an einer Stelle im Garten saßen, die bald in Sonnenlicht gebadet sein würde, jetzt aber feuchtkalt von der Morgenkühle war; und was Miro sich zu diesem unwandelbaren, sich nie verändernden Mann sagen hörte, war dies: »Was ist diese Klostergeschichte, Andrew Wiggin, außer einer indirekten, feigen Methode, sich selbst zu kreuzigen?«
»Ich habe dich auch vermißt, Miro«, sagte Ender. »Aber du siehst müde aus. Du brauchst mehr Schlaf.«
Miro seufzte und schüttelte den Kopf. »Eigentlich war es das gar nicht, was ich sagen wollte. Ich versuche, dich zu verstehen, wirklich. Valentine sagt, ich sei so wie du.«
»Meinst du die echte Valentine?« fragte Ender.
»Sie sind beide echt«, sagte Miro.
»Nun, falls ich so bin wie du, dann prüfe dich und sage mir, was du entdeckst.«
Während er ihn anschaute, fragte Miro sich, ob Ender das tatsächlich so meinte.
Ender tätschelte Miros Knie. »Ich werde da draußen im Augenblick wirklich nicht gebraucht«, sagte er.
»Das glaubst du doch nicht eine Sekunde lang«, sagte Miro.
»Aber ich glaube, daß ich es glaube«, sagte Ender, »und für mich ist das schon ziemlich gut. Bitte, desillusioniere mich nicht. Ich habe noch nicht
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