Ender 4: Enders Kinder
brachte, die ganzen Demosthenes-Texte zu schreiben – aufwieglerische Demagogie –, während er die ganzen Locke-Texte schrieb, die hochfliegenden, analytischen Gedanken. Aber die niedrige Demagogie kam von ihm.«
»Die hochfliegenden Ideen auch«, sagte Peter.
»Genau«, sagte Wang-mu. »Was nie von ihm kam, was nur von Valentine kam, war etwas, das er nie sah oder zu schätzen wußte. Eine menschliche Seele.«
»Das hat Han Fei-tzu gesagt?«
»Ja.«
»Dann ist er ein Esel«, sagte Peter. »Weil Peter genausoviel an menschlicher Seele besaß wie Valentine.« Er trat einen Schritt vor, bis er über ihr aufragte. »Ich bin derjenige, der keine Seele hat, Wang-mu.«
Einen Augenblick lang fürchtete sie sich vor ihm. Wie konnte sie wissen, was ihm bei seiner Erschaffung an Gewalttätigkeit mitgegeben worden war? Welche dunkle Raserei in Enders Aiúa durch dieses Surrogat, das er geschaffen hatte, ihren Ausdruck finden mochte?
Aber Peter schlug sie nicht. Vielleicht war es nicht nötig.
Aimaina Hikari kam persönlich zum vorderen Tor seines Gartens hinaus, um sie einzulassen. Er war schlicht gekleidet, und um seinen Hals hing das Medaillon, das alle traditionalistischen Japaner Götterwinds trugen: eine winzige Urne, die die Asche seiner ehrwürdigen Ahnen enthielt. Peter hatte ihr bereits erklärt, daß, wenn ein Mann wie Hikari starb, eine Prise der Asche aus seinem Medaillon mit seiner eigenen Asche vermengt und seinen Kindern oder Enkeln übergeben werden würden, damit sie sie trügen. Auf diese Weise hing seine ganze uralte Familie über seinem Brustbein, im Wachen wie im Schlafen, und stellte das kostbarste Geschenk dar, das er seinen Nachkommen vererben konnte. Es war ein Brauch, den Wang-mu, die keine Ahnen besaß, an die zu erinnern sich gelohnt hätte, hinreißend und beunruhigend zugleich fand.
Hikari begrüßte Wang-mu mit einer Verneigung; Peter indes streckte er die Hand zu einem Händedruck entgegen. Peter ergriff sie, wobei er ein wenig Überraschung erkennen ließ.
»Oh, man nennt mich den Hüter des Yamato-Geistes«, sagte Hikari mit einem Lächeln, »aber das heißt nicht, daß ich unhöflich sein und Europäer dazu zwingen muß, sich wie Japaner zu verhalten. Zu beobachten, wie ein Europäer sich verneigt, ist so peinlich, als sehe man einem Schwein dabei zu, wie es versucht, Ballett zu tanzen.«
Während Hikari sie durch den Garten in sein Haus mit den traditionellen Papierwänden führte, sahen Peter und Wang-mu sich an und grinsten breit. Es war ein wortloser Waffenstillstand zwischen ihnen, denn sie wußten beide sofort, daß Hikari ein gefährlicher Gegner sein würde und sie als Verbündete auftreten mußten, wenn sie irgend etwas von ihm erfahren wollten.
»Eine Philosophin und ein Naturforscher«, sagte Hikari. »Ich habe mich über Sie kundig gemacht, als ich Ihre Botschaft mit der Bitte um eine Unterredung erhielt. Ich bin schon früher von Philosophen und Naturforschern besucht worden, und auch von Europäern und Chinesen, aber was mich wirklich vor ein Rätsel stellt, ist, warum Sie beide gemeinsam kommen.«
»Sie fand mich sexuell unwiderstehlich«, sagte Peter, »und ich kann sie nicht wieder loswerden.« Dann lächelte er sein charmantestes Lächeln.
Zu Wang-mus Befriedigung ließ Peters Ironie westlichen Stils Hikari teilnahmslos und unamüsiert, und sie konnte sehen, wie Röte Peters Nacken hinaufkroch.
Jetzt war sie an der Reihe – und diesmal wollte sie ernsthaft den Gnomiker spielen. »Das Schwein suhlt sich im Schlamm, aber es wärmt sich auf dem sonnigen Stein.«
Hikari richtete seinen prüfenden Blick auf sie – genauso ungerührt wie zuvor. »Ich werde diese Worte in mein Herz schreiben«, sagte er.
Wang-mu fragte sich, ob Peter begriff, daß sie gerade das Opfer von Hikaris Ironie östlichen Stils geworden war.
»Wir sind gekommen, um von Ihnen zu lernen«, sagte Peter.
»Dann muß ich Ihnen Speise geben und Sie enttäuscht auf Ihrem Wege weiterziehen lassen«, sagte Hikari. »Ich habe nichts, was ich einem Naturforscher oder einer Philosophin lehren könnte. Wenn ich keine Kinder hätte, gäbe es niemandem, dem ich etwas beibringen könnte, denn nur sie wissen noch weniger als ich.«
»Nein, nein«, sagte Peter. »Sie sind ein weiser Mann. Der Hüter des Yamato-Geistes.«
»Ich sagte, daß man mich so nennt. Aber der Yamato-Geist ist viel zu groß, um in einem so kleinen Schrein wie meiner Seele aufbewahrt zu werden. Und doch ist der Yamato-Geist
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