Ender 4: Enders Kinder
benutzt und ausgenutzt und ihm nie irgend etwas gegeben, und der einzige Grund, warum er jetzt stirbt, ist der, um von dir wegzukommen.«
Novinha antwortete nicht, fand keine Worte, weil sie in ihrem tiefsten Innern sofort wußte, daß das, was Plikt gesagt hatte, der Wahrheit entsprach.
Valentine aber trat um das Bett herum, ging zur Tür und versetzte Plikt eine gewaltige Ohrfeige. Plikt wankte unter dem Schlag und rutschte am Türrahmen herunter, bis sie auf dem Boden saß und sich die brennende Wange hielt, während ihr Tränen über das Gesicht liefen. Valentine ragte wie ein Turm über ihr auf. »Du wirst niemals seinen Tod sprechen, verstehst du mich? Eine Frau, die eine derartige Lüge aussprechen kann, nur um Schmerz zu verursachen, nur um gegen jemanden vom Leder zu ziehen, den du beneidest – nein, du bist keine Sprecherin für die Toten! Ich schäme mich, daß ich dich jemals meine Kinder habe unterrichten lassen. Was, wenn etwas von der Lüge in dir auch in sie eingesickert wäre? Du widerst mich an!«
»Nein«, sagte Novinha. »Nein, sei nicht wütend auf sie. Es ist wahr, es ist wahr.«
»Es erscheint dir wahr«, sagte Valentine, »weil du immer das Schlimmste über dich glauben willst. Aber es ist nicht wahr. Ender hat dich uneingeschränkt geliebt, und du hast ihm nichts weggenommen, und der einzige Grund, weshalb er noch am Leben ist, dort auf jenem Bett, ist seine Liebe zu dir. Das ist der einzige Grund, warum er dieses verbrauchte Leben nicht aufgeben und mithelfen kann, Jane an einen Ort zu geleiten, an dem sie in der Lage ist weiterzuleben.«
»Nein, nein, Plikt hat recht, ich zerstöre die Menschen, die ich liebe.«
»Nein!« rief Plikt, die weinend am Boden lag. »Ich habe dich angelogen! Ich liebe ihn so sehr, und ich bin so eifersüchtig auf dich, weil er dir gehörte und du ihn nicht einmal haben willst.«
»Ich habe nie aufgehört, ihn zu lieben«, sagte Novinha.
»Du hast ihn verlassen. Du bist ohne ihn hier eingetreten.«
»Ich ging fort, weil ich es nicht …«
Als sie verstummte, beendete Valentine ihren Satz für sie. »Weil du es nicht ertragen konntest, von ihm verlassen zu werden. Du hast es gespürt, nicht wahr? Schon da hast du gespürt, wie er dahinschwand. Du wußtest, daß er fortgehen, dieses Leben beenden mußte, und du konntest es nicht ertragen, von einem weiteren Mann verlassen zu werden, darum verließt du ihn zuerst.«
»Vielleicht«, sagte Novinha müde. »Es sind sowieso alles nur Geschienten. Wir tun, was wir tun, und dann erfinden wir hinterher Gründe dafür, aber es sind nie die wahren Gründe, die Wahrheit liegt immer außerhalb unserer Reichweite.«
»Dann hör dir diese Geschichte an«, sagte Valentine. »Was wäre, wenn, nur dieses eine Mal, jemand, den du liebst, dich nicht verrät und sich davonstiehlt und gegen deinen Willen und ohne deine Erlaubnis stirbt – was also wäre, wenn, nur dieses eine Mal, du ihn aufwecken und ihm sagen würdest, daß er weiterleben kann, wenn du ihm angemessen Lebewohl sagen und ihn mit deinem Einverständnis gehen lassen würdest? Nur dieses eine Mal?«
Novinha, die in äußerster Erschöpfung dastand, weinte von neuem. »Ich will, daß das alles aufhört«, sagte sie. »Ich will sterben.«
»Gerade deshalb muß er ja bleiben«, sagte Valentine. »Kannst du dich nicht um seinetwillen dafür entscheiden, weiterzuleben und ihn gehen zu lassen? Bleib in Milagre und sei die Mutter deiner Kinder und die Großmutter deiner Kindeskinder, erzähle ihnen Geschichten über Os Venerados und über Pipo und Libo und über Ender Wiggin, der kam, um deine Familie zu heilen, und blieb, um für viele, viele Jahre dein Ehemann zu sein, bevor er starb. Nicht irgendein Sprechen für die Toten, nicht irgendeine Grabrede, nicht irgendeine Nachlese über dem Leichnam, wie Plikt es tun will, sondern die Geschichten, die ihn in den Gedanken der einzigen Familie, die er jemals hatte, lebendig erhalten. Er wird ohnehin sterben, bald genug. Warum ihn nicht mit deiner Liebe und deinem Segen in den Ohren ziehen lassen, statt daß du mit deinem Zorn und deiner Trauer an ihm zerrst und versuchst, ihn hier festzuhalten?«
»Du erzählst da eine hübsche Geschichte«, sagte Novinha. »Aber im Grunde verlangst du von mir, ihn Jane zu überlassen.«
»Wie du gesagt hast«, antwortete Valentine. »Alle Geschichten sind Fiktionen. Es kommt nur darauf an, an welche Fiktion man glaubt.«
Kapitel 9
›Für mich riecht es nach Leben‹
Warum
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