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Enders Schatten

Enders Schatten

Titel: Enders Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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bedeutete das, dass er »gut« war. Für ihn war es eine Möglichkeit, Zugang zu Essen und Wissen zu erhalten. Er war nicht dumm.
    Warum glaubte sie, dass er Angst hatte? Weil sie Angst um ihn hatte. Daher gab es vielleicht tatsächlich etwas zu befürchten. Er würde vorsichtig sein.
    Und warum nahm sie an, dass er sie vermissen würde? Weil sie ihn vermissen würde und sich nicht vorstellen konnte, dass er nicht das Gleiche empfand wie sie. Sie hatte eine imaginäre Version von ihm geschaffen. Wie bei den So-tun-als-ob-Spielen, die sie einige Male mit ihm versucht hatte. Die hatten wahrscheinlich mit ihrer eigenen Kindheit zu tun, in einem Haus, wo es immer genug zu essen gegeben hatte. Bean hatte auf der Straße nicht so tun müssen als ob, um seine Fantasie zu entwickeln. Er hatte sich die ganze Zeit überlegen müssen, wie er an Essen herankam, wie er sich in eine Bande drängen, wie er überleben konnte, obwohl er allen anderen nutzlos vorkam. Er musste darüber nachdenken, wie und wann Achilles ihn umbringen würde, weil er sich dafür ausgesprochen hatte, dass Poke Achilles umbrachte. Er musste sich vorstellen, dass hinter jeder Ecke Gefahren lauerten, ein Schläger, der ihm auch noch das letzte Fitzelchen Brot abnehmen würde. Oh, er hatte viel Fantasie. Aber er hatte überhaupt kein Interesse an diesen Spielen.
    Es war ihr Spiel. Sie spielte es die ganze Zeit. Tun wir so, als wäre Bean ein braver kleiner Junge. Tun wir so, als wäre Bean der Sohn, den diese Nonne nie wirklich haben kann. Tun wir so, als würde Bean weinen, wenn er geht, und als würde er jetzt nur deshalb nicht weinen, weil er zu viel Angst vor dieser neuen Schule hat, vor der Reise in den Weltraum, um seine Emotionen zu zeigen. Tun wir so, als würde Bean mich lieben.
    Und als er das verstanden hatte, kam er zu einem Entschluss: Es wird mir nicht schaden, wenn sie das alles glaubt. Und sie will es ja unbedingt glauben. Warum es ihr also nicht geben? Immerhin hat Poke mich bei ihrer Bande bleiben lassen, obwohl sie mich nicht brauchte, weil es auch nichts hatte schaden können. So hatte sich jedenfalls Poke verhalten.
    Bean rutschte von seinem Stuhl, ging um den Tisch herum zu Schwester Carlotta und schlang die Arme so weit um sie, wie sie reichten. Sie zog ihn auf ihren Schoß und hielt ihn fest, und ihre Tränen flossen in sein Haar. Er hoffte nur, dass ihre Nase nicht lief. Aber er klammerte sich so lange an sie, wie sie sich an ihn klammerte, und ließ erst los, als sie ihn losließ. Das war alles, was sie von ihm wollte, die einzige Bezahlung, die sie je von ihm verlangt hatte. Für all die Mahlzeiten, den Unterricht, die Bücher, die Sprache, für seine Zukunft war er es ihr schuldig, bei diesem So-tun-als-ob-Spiel mitzumachen.
    Dann war der Augenblick vorüber. Er rutschte von ihrem Schoß. Sie tupfte sich die Augen trocken, stand auf, griff nach seiner Hand und führte ihn hinaus zu den wartenden Soldaten, zu dem wartenden Auto.
    Als er zu dem Auto kam, ragten die uniformierten Männer hoch über ihm auf. Sie trugen nicht die graue Uniform der Polizei des Internationalen Territoriums, dieser Kindertreter und Stockschwinger. Es war die himmelblaue Kluft der Internationalen Flotte; sie sah sauberer aus, und die Leute, die sich auf der Straße versammelt hatten, wirkten nicht verängstigt, sondern eher ehrfürchtig. Das hier war die Uniform weit entfernter Macht, der Sicherheit für die Menschheit, die Uniform derer, von denen alle Hoffnungen abhingen. Das hier war die Armee, in die Bean eintreten würde.
    Aber er war so klein, und als sie auf ihn niederschauten, bekam er tatsächlich Angst und klammerte sich fester an Schwester Carlottas Hand. Würde er einer von ihnen werden? Würde er ein solcher Mann in Uniform werden, der so bewundert wurde? Warum hatte er dann Angst?
    Ich habe Angst, dachte Bean, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass ich je so groß sein werde.
    Einer der Soldaten bückte sich und wollte ihn ins Auto heben. Bean starrte ihn, wütend darüber, an, dass er sich so etwas herausnahm. »Ich kann das allein«, fauchte er.
    Der Soldat nickte und richtete sich wieder auf. Bean hob den Fuß auf das Trittbrett des Autos und zog sich hinein. Es war ziemlich hoch, und der Sitz, an dem er sich festhielt, war glatt und gab seinen Händen wenig Halt. Aber er schaffte es und setzte sich in die Mitte des

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