Enders Schatten
nächsten Unterrichtsstunde. Das Zimmer war leer. Unterrichtszeit.
Ender Wiggin. Die Kinder im Flur hatten ihn ebenfalls erwähnt. Etwas an Bean hatte die Kinder an Ender Wiggin erinnert. Sie sprachen manchmal mit Bewunderung von ihm, manchmal ablehnend. Dieser Ender hatte offenbar ein paar ältere Kinder bei Computerspielen geschlagen. Und er rangierte ganz oben auf der Rangliste, hatte jemand gesagt. Ganz oben wofür?
Kinder in der gleichen Uniform, die rannten wie ein Trupp unterwegs zum Kampf â das war die zentrale Tatsache des Lebens hier. Es gab ein Hauptspiel, das alle spielten. Sie lebten in Unterkünften entsprechend der Mannschaft, zu der sie gehörten. Die Leistungen jedes Kindes waren allen anderen bekannt, und um was immer es in diesem Spiel gehen mochte, die Erwachsenen hielten die Fäden in der Hand. Das war also das Leben hier. Und dieser Ender Wiggin, wer immer er sein mochte, rangierte ganz oben, er führte die Liste an.
Bean erinnerte die Leute an ihn.
Das machte ihn ein wenig stolz, ja, aber es ärgerte ihn auch. Es war sicherer, nicht aufzufallen. Nur weil dieses andere Kind sich hervorragend geschlagen hatte, dachte jeder, der Bean sah, an Ender, und das machte Bean auffällig. Es würde seine Freiheit beträchtlich einengen. Es gab hier keine Möglichkeit, einfach zu verschwinden, wie er in Rotterdam in Menschenmengen untergetaucht war.
Nun, wen interessierte das schon? Man konnte ihm jetzt nicht wehtun. Nicht wirklich. Ganz gleich, was geschah, solange er hier in der Kampfschule war, würde er keinen Hunger leiden. Er würde immer ein Dach über dem Kopf haben. Er hatte es bis in den Himmel geschafft. Er brauchte nur den Mindestanforderungen zu genügen, um nicht zu früh nach Hause geschickt zu werden. Wen interessierte es also, ob er den Leuten auffiel oder nicht? Es war egal. Sollten sie sich doch über ihre Ranglistenplätze Gedanken machen. Bean hatte den Kampf ums Ãberleben bereits gewonnen, und danach zählte keine Konkurrenz mehr.
Aber noch während er das dachte, wusste er, dass es nicht stimmte. Es zählte für ihn. Nur zu überleben genügte nicht. Es hatte nie genügt. GröÃer als sein Bedürfnis nach Essen war sein Verlangen nach Ordnung gewesen, danach, herauszufinden, wie die Dinge funktionierten, die Welt um sich herum zu begreifen. Als er am Verhungern gewesen war, hatte er selbstverständlich alles benutzt, was er gelernt hatte, um in Pokes Bande zu kommen und ihnen so viel Essen zu beschaffen, dass auch noch genügend für ihn am unteren Ende der Hackordnung abfiel. Aber selbst als Achilles sie zu seiner Familie gemacht hatte und sie jeden Tag zu essen bekamen, war Bean weiterhin aufmerksam geblieben, hatte versucht, die Veränderungen zu verstehen, die Dynamik in der Gruppe. Sogar bei Schwester Carlotta hatte er sich angestrengt zu begreifen, warum und wie weit sie die Macht hatte, für ihn zu tun, was sie tat, und aus welchem Grund sie ihn ausgewählt hatte. Er hatte es wissen müssen. Er hatte ein Bild von allem in seinem Kopf haben müssen.
Hier war es das Gleiche. Er hätte einfach in die Unterkunft zurückkehren und schlafen können. Stattdessen hatte er es riskiert, Ãrger zu bekommen, nur um Dinge herauszufinden, die er irgendwann ohnehin erfahren hätte.
Warum bin ich hier heraufgekommen? Wonach habe ich gesucht? Nach dem Schlüssel.
Die Welt war voll verschlossener Türen, und er musste jeden Schlüssel in die Hand bekommen.
Er stand still und lauschte. Es war beinahe still im Raum. Aber es gab ein weiÃes Rauschen, Hintergrundmurmeln und leises Zischen, das dafür sorgte, dass nicht in der gesamten Station Geräusche widerhallten.
Als er die Augen schloss, konnte er die Quelle des Rauschens identifizieren. Er schlug die Augen wieder auf und ging dorthin, wo sich die Belüftungsöffnung befand. Eine Ãffnung, aus der wie ein ganz leichter Windhauch etwas wärmere Luft drang. Das Rauschen rührte nicht so sehr vom Zischen der Luft hier an der Ãffnung her, sondern war ein viel lauteres, weiter entferntes Geräusch von den Maschinen, die Luft durch die gesamte Kampfschule pumpten.
Schwester Carlotta hatte ihm erzählt, dass es im Weltraum keine Luft gab, also mussten die Leute, wann immer sie dort lebten, ihre Schiffe und Stationen dicht abriegeln, damit die Luft drinnenblieb. Und sie mussten die Luft auch austauschen, weil der
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