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Endlich

Endlich

Titel: Endlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Hitchens
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zwingt, wahrheitsgemäß oder vollständig zu antworten. Man ist nicht unter Eid. Also antworte ich dieser Tage eher etwas kryptisch – »Ist noch zu früh, um das zu sagen«, oder dergleichen. (Wenn die wunderbaren Angestellten meiner Onkologieklinik die Frage stellen, gehe ich manchmal so weit, zu erwidern: »Heute habe ich wohl Krebs.«) Niemand möchte etwas von den zahllosen kleinen Schrecklichkeiten und Demütigungen wissen, die zum Leben gehören, wenn der Körper einmal vom Freund zum Feind geworden ist – dem dummen Wechsel zwischen chronischer Verstopfung und dem plötzlichen dramatischen Gegenteil, der ebenso gemeinen Widersprüchlichkeit, dass man akuten Hunger empfindet und sich gleichzeitig schon vor dem Geruch des Essens ekelt, dem absoluten Elend, wenn einem der Brechreiz den völlig leeren Magen umstülpt, oder der bizarren Entdeckung, dass der Verlust des Körperhaars sich auch auf die Härchen in den Nasenlöchern erstreckt, was das kindliche, irritierende Phänomen einer ständig laufenden Nase bewirkt. Ja, tut mir leid, aber Sie haben gefragt … Es macht keinen Spaß, die Wahrheit des materialistischen Lehrsatzes ganz auszukosten, dass man keinen Körper hat, sondern ein Körper ist .
    Andererseits kann man auch nicht einem »Frag nix, sag nix«-Prinzip folgen. Dieser Grundsatz (formuliert als Scheinlösung für das Problem der Homosexualität beim amerikanischen Militär) ist nun einmal ein Rezept für Heuchelei und Doppelmoral. Freunde und Verwandte haben gar keine andere Wahl, als sich teilnehmend zu erkundigen. Man kann versuchen, es ihnen leicht zu machen, indem man so offen wie möglich ist und keinerlei Euphemismen verwendet oder Beschönigungen vornimmt. Die rascheste Möglichkeit besteht in diesem Zusammenhang darin, dass man bemerkt, dass das hervorstechende Merkmal des vierten Stadiums darin liege, dass es kein fünftes gibt. Ganz zu Recht greifen manche Besucher das auf. Ich musste mich kürzlich damit abfinden, dass ich der Hochzeit meiner Nichte in meiner alten Heimatstadt und an meiner einstigen Universität in Oxford nicht werde beiwohnen können. Dies bedrückte mich aus mehr als einem Grund, und ein besonders enger Freund fragte: »Hast du Angst, dass du England nie wiedersehen wirst?« Er hatte ganz und gar Recht, das zu fragen, und es war auch genau dies, was mich geplagt hatte, aber ich war unvernünftigerweise schockiert von seiner Direktheit. Ich schaue hier den Tatsachen ins Auge, vielen Dank. Da brauche ich dich nicht dazu. Und doch hatte ich die Frage herausgefordert. Als ich einer Freundin mit absichtlichem Realismus erzählte, dass ich nach ein paar weiteren Scans und Behandlungen möglicherweise von den Ärzten hören würde, dass es von nun an nur noch um das »Management« gehen könne, blieb mir wieder die Luft weg, als sie sagte: »Ja, ich nehme an, es kommt eine Zeit, wo man daran denken muss, loszulassen.« Wie wahr, und eine wie angemessene Zusammenfassung dessen, was ich eben selbst gesagt hatte. Doch wieder spürte ich den unvernünftigen Drang, eine Art Monopol oder Veto für das zu beanspruchen, was sich tatsächlich aussprechen ließ. Ist man Opfer einer Krebserkrankung, ist man ständig in Versuchung, egozentrisch (und sogar solipsistisch) zu sein.
    *
    Insofern würde mein geplantes Benimm-Handbuch mir ebenso Pflichten auferlegen wie denen, die zu viel oder zu wenig sagen beim Versuch, die unvermeidliche Peinlichkeit in den diplomatischen Beziehungen zwischen Tumorhausen und seinen Nachbarn zu überspielen. Wenn man ein Beispiel dafür sucht, wie man nicht als Botschafter der genannten Ortschaft auftreten sollte, würde ich sowohl das Buch wie das Video Last Lecture – Die Lehren meines Lebens empfehlen. Es wäre vielleicht geschmacklos, zu sagen, dass dieser frühzeitig aufgenommene Abschied des verstorbenen Prof. Randy Pausch sich im Internet wie ein Virus verbreitet hat, aber genau das ist der Fall. Pauschs Produkt sollte eine eigene medizinische Warnung tragen: So zuckersüß, dass Sie möglicherweise eine Insulininjektion benötigen werden, um es auszuhalten. Pausch hat für Disney gearbeitet, und man merkt das. Er bringt einen ganzen Abschnitt zur Verteidigung ehrwürdiger Klischees und lässt dabei nicht einmal den Witz aus: »Davon abgesehen, Mrs. Lincoln, wie hat Ihnen das Stück gefallen?« Die Wörter »Junge« oder »Kindheit« oder »Traum« werden gebraucht wie zum allerersten Mal. (»Jeder, der die Wörter ›Kindheit‹ und ›Traum‹

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