Endstation für neun
während Stenström zwei Meter entfernt stand und noch überlegte, was zu tun war. Melander gegenüber, der nie eine Miene verzog und darüber hinaus nichts vergaß, was er einmal gesehen, gelesen oder gehört hatte.
Tja, wer würde da keine Minderwertigkeitskomplexe entwickeln?
Warum wusste er so wenig? Weil er nicht aufmerksam genug gewesen war? Oder weil es nichts zu wissen gab?
Martin Beck massierte mit den Fingerspitzen seinen Haaransatz und musterte die Gegenstände, die Kollberg auf den Tisch gelegt hatte.
Stenström hatte zur Pedanterie geneigt: zum Beispiel die Sache mit der Uhr, die immer auf die Sekunde genau gehen musste, oder die minutiöse Ordnung auf und in seinem Arbeitstisch. Papiere, Papiere und noch mehr Papiere. Kopien von Berichten, Notizen, Gerichtsprotokolle, vervielfältigte Dienstanweisungen und Sonderdrucke von Gesetzestexten. Alles in säuberlich geordneten Blätterstapeln.
Am persönlichsten waren noch eine Streichholzschachtel und eine unangebrochene Packung Kaugummis. Da Stenström weder rauchte noch einem übertriebenen Kaugummikonsum verfallen war, hatte er diese Dinge vermutlich gelagert, um Leuten eine Art Service bieten zu können, die zu ihm gekommen waren, um vernommen zu werden oder sich vielleicht einfach ein wenig zu unterhalten.
Kollberg seufzte schwer und sagte:
»Hätte ich in dem Bus gesessen, würdet du und Stenström jetzt meine Schubladen durchwühlen. Das wäre weiß Gott ein mühsamerer Job gewesen. Wahrscheinlich wärt ihr auf Dinge gestoßen, die mein Andenken besudelt hätten.« Martin Beck konnte sich lebhaft vorstellen, wie es in Kollbergs Schubladen aussah, enthielt sich jedoch jeden Kommentars.
»Die Sachen hier können weder sein Andenken besudeln noch das von jemand anderem«, meinte Kollberg. Martin Beck erwiderte auch diesmal nichts. Schweigend, schnell und gründlich gingen sie die Papiere durch. Es gab nichts, was sie nicht augenblicklich identifizieren oder in seinen angestammten Zusammenhang einordnen konnten. Alle Notizen und Dokumente hatten mit Ermittlungen zu tun, an denen Stenström beteiligt gewesen war und die sie gut kannten. Schließlich blieb nur noch ein Gegenstand übrig. Ein brauner Umschlag im Quartformat. Er war versiegelt und relativ dick.
»Was könnte das sein?«, fragte Kollberg.
»Mach ihn auf und sieh nach.«
Kollberg drehte und wendete den Umschlag.
»Sieht aus, als hätte er ihn sehr sorgfältig zugeklebt. Schau dir mal die Klebestreifen hier an.«
Er zuckte mit den Schultern, nahm den Brieföffner aus der Schreibschale und schlitzte den Umschlag resolut auf. »Ach«, sagte Kollberg. »Ich wusste gar nicht, dass Stenström fotografiert hat.«
Er blätterte in dem Stapel Fotos und legte die Aufnahmen anschließend vor ihnen aus.
»Und ich hätte nie im Leben gedacht, dass er solche Interessen hatte.«
»Das ist seine Verlobte«, sagte Martin Beck tonlos.
»Ja, schon, aber ich hätte es nie für möglich gehalten, dass er derart fortschrittliche Neigungen hatte.«
Martin Beck betrachtete die Aufnahmen eher pflichtschuldig und mit dem unangenehmen Gefühl, das ihn stets überkam, wenn er mehr oder weniger gezwungen war, in Bereiche einzudringen, die zum Privatleben eines anderen Menschen gehörten. Es war eine spontane und angeborene Reaktion, und selbst nach dreiundzwanzig Dienstjahren bei der Polizei hatte er nicht gelernt, sie in den Griff zu bekommen. Kollberg fochten solche Bedenken nicht an. Außerdem war er ein Genussmensch.
»Sie ist wirklich verdammt hübsch«, sagte er anerkennend und mit großem Nachdruck. Er fuhr fort, die Bilder zu studieren.
»Handstand kann sie auch«, sagte er. »Ich hätte nicht im Traum gedacht, dass sie so aussieht.«
»Du hast sie doch schon mal gesehen.«
»Ja, angezogen. In ihrem Fall scheint das ein großer Unterschied zu sein.«
Kollberg hatte recht, aber Martin Beck zog es vor, sich zu diesem Thema nicht weiter zu äußern. Stattdessen sagte er:
»Und morgen wirst du ihr wieder begegnen.«
»Ja«, sagte Kollberg düster. »Das wird kein Zuckerschlecken.«
Er sammelte die Fotos ein und legte sie in den Umschlag zurück. Dann sagte er:
»Es ist vielleicht besser, wir machen uns auf den Heimweg. Ich fahr dich.« Sie löschten das Licht und gingen. Im Auto sagte Martin Beck:
»Wie bist du gestern Abend eigentlich in die Norra Stationsgatan gerufen worden? Als ich anrief, wusste Gun nicht, wo du bist, und du warst lange vor mir am Tatort.«
»Das war purer Zufall.
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