Endstation für neun
bereits aufgeknöpft hatte«, sagte Kollberg nachdenklich. »Da ist noch etwas.«
»Ja?«
»Hammar hat bei der Besprechung heute etwas gesagt.«
»Ja«, sagte Martin Beck.
»Sinngemäß hat er gesagt: Das ist nicht stichhaltig. Ein geistesgestörter Massenmörder handelt nicht so planvoll.«
»Meinst du, damit hat er recht?«
»Ja, im Prinzip schon.«
»Was bedeuten würde?«
»Dass der Schütze kein geistesgestörter Massenmörder gewesen ist. Oder besser gesagt, dass es kein Mord aus Sensationslust war.«
Kollberg wischte sich mit einem zusammengefalteten Taschentuch den Schweiß aus der Stirn, betrachtete es nachdenklich und sagte:
»Herr Larsson hat gemeint…«
»Gunvald?«
»Genau der. Bevor er nach Hause gegangen ist, um sich Deo unter die Arme zu sprühen, hat er vom Gipfel seiner Weisheit aus erklärt, dass er rein gar nichts versteht. Er hat zum Beispiel nicht verstanden, warum der Irre sich nicht das Leben genommen hat oder dageblieben ist, um sich verhaften zu lassen.«
»Ich glaube, du unterschätzt Gunvald«, sagte Martin Beck. »Glaubst du?«
Kollberg zuckte gereizt mit den Schultern. »Was soll's«, sagte er. »Das ist doch alles Blödsinn. Dass wir es hier mit einem Massenmord zu tun haben, steht außer Frage. Und natürlich ist der Schütze verrückt. Nach allem, was wir wissen, könnte er in diesem Moment zu Hause vor dem Fernseher sitzen und genießen, was er angerichtet hat. Er könnte im Übrigen auch durchaus Selbstmord begangen haben. Dass Stenström bewaffnet war, heißt gar nichts, weil wir seine Gewohnheiten nicht kennen. Vermutlich ist er in Begleitung dieser Krankenschwester gewesen. Oder aber er war unterwegs zu einer Nutte oder einem Freund. Vielleicht hat er sich mit seiner Freundin gestritten oder eine Standpauke von seiner Mutter anhören müssen und hockte schmollend in einem Bus, weil es zu spät war, um noch ins Kino zu gehen, und er sonst nirgend-wohin konnte.«
»Das können wir immerhin herausfinden«, sagte Martin Beck. »Ja. Morgen. Aber eine Sache sollten wir jetzt sofort erledigen. Bevor es ein anderer macht.«
»Seinen Schreibtisch in Västberga durchsuchen«, sagte Martin Beck.
»Deine Kombinationsgabe ist bewundernswert«, erwiderte Kollberg. Er stopfte seine Krawatte in die Hosentasche und zog das Jackett an.
Das Wetter hielt sich, aber es war neblig, und der Nachtfrost lag wie ein Leichentuch über Bäumen, Straßen und Häuserdächern. Kollberg hatte Mühe, durch die Windschutzscheibe etwas zu sehen, und murmelte finstere Flüche, wenn das Auto in den Kurven wegrutschte.
Auf dem Weg zum Polizeipräsidium Süd wechselten sie nur zwei Sätze. Kollberg sagte:
»Sind Massenmörder in der Regel kriminell vorbelastet?« Und Martin Beck antwortete:
»Meistens. Aber bei weitem nicht immer.« Draußen in Västberga war das Präsidium still und verwaist. Schweigend durchquerten sie die Eingangshalle und stiegen die Treppen hinauf, gaben den Zahlencode auf der runden Nummernscheibe neben den Glastüren im zweiten Stock ein und gingen weiter zu Stenströms Büro.
Kollberg zögerte einen Moment, setzte sich dann hinter den Schreibtisch und zog prüfend an den Schubladen. Sie waren nicht verschlossen.
Der Raum war sauber und aufgeräumt, aber völlig unpersönlich. Stenström hatte sich nicht einmal ein Porträt seiner Verlobten auf den Schreibtisch gestellt.
Dagegen lagen zwei Fotos von ihm selbst in der Schreibschale. Martin Beck kannte den Grund. Stenström hatte zum ersten Mal seit Jahren das Glück gehabt, über Weihnachten und Neujahr Urlaub zu bekommen. Er hatte bereits Plätze in einer Chartermaschine zu den Kanarischen Inseln gebucht. Die Bilder hatte er machen lassen, weil er sich einen neuen Pass besorgen musste.
So ein Glück, dachte Martin Beck und betrachtete die Fotos, die neu und besser waren als die Bilder auf den Titelseiten der Abendzeitungen.
Stenström sah auf ihnen eher jünger aus als neunundzwanzig. Er hatte einen offenen, heiteren Blick und zurückgekämmte dunkelbraune Haare, die hier, wie meistens, etwas widerspenstig wirkten.
Anfangs hatten ihn einige Kollegen naiv und ziemlich mittelmäßig gefunden, unter anderem auch Kollberg, dessen sarkastische Bemerkungen und oft herablassende Art eine fortwährende Prüfung für Stenström gewesen waren. Aber das war lange her. Martin Beck erinnerte sich, dass er die Sache einmal mit Kollberg diskutiert hatte, als sie noch in den Räumlichkeiten der ehemaligen Staatspolizei draußen in
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