Endstation Kabul
drüberflogen, drehten sie sich auf die andere Seite und schliefen weiter. Es lohnte sich einfach nicht, darauf zu reagieren. Kostete nur wertvolle Schlafenszeit.
Später wurde ein Alarmkonzept erstellt, und es wurden sehr professionell und zügig Sandsackbunker in verschiedenen Bereichen des Camps gebaut. Auch ein Frühwarnsystem erhielt das Kontingent, das am Flughafen stationiert war und »Mamba« hieß. Das ist ein britisches Bodenradar, das anfliegende Geschosse erkennen und den vermutlichen Aufschlagpunkt berechnen kann. Ein Radar verfolgt den sogenannten »aufsteigenden Ast« des Geschosses und berechnet auf dieser Basis den »absteigenden Ast« mit dem voraussichtlichen Einschlagpunkt.
Am Tag nach meiner ersten Rakete erhielten Alex und ich den Auftrag, bis an den Rand der riesigen Stadt und der AOR zu fahren. Diese »Area of Responsibility«, also unser Zuständigkeitsbereich, war für den ISAF-Einsatz genau definiert und auch unter dieser Prämisse vom Deutschen Bundestag mandatiert worden. Es ging bei dieser recht willkürlichen und im Laufe der Monate und Jahre immer wieder nachjustierten »Grenzziehung« im Grunde darum, sich von der unter amerikanischer Flagge laufenden militärischen Antiterror-Operation, also der »Operation Enduring Freedom« (OEF) im Rest des Landes, abzugrenzen. Kabul und die AOR als eine Art kampffreies Vakuum – zumindest in der Theorie und als Beruhigungspille für die deutsche Öffentlichkeit. Kabul war das Zentrum dieser weitläufigen AOR. Von Westen nach Osten reichte die Strecke etwa 40 Kilometer weit, von Norden nach Süden ungefähr 70 Kilometer. Die Verantwortlichkeiten innerhalb der AOR wurden unter den beteiligten Nationen der KMNB aufgeteilt. Die Deutschen waren für den Norden der Stadt zuständig, die im Camp Phoenix beheimateten Briten kümmerten sich um den südlichen Teil, die Franzosen waren am KIA, den sie auch betrieben und sicherten, stationiert.
Doof nur, dass die meisten Geschosse ausgerechnet vom Rand oder von außerhalb der AOR auf uns abgefeuert wurden. Ich ging davon aus, dass die Angreifer unsere Grenzen kannten und diesen Umstand weidlich ausnutzten. Woher sie so gut informiert waren, weiß ich nicht. Aber ich vermute einen Zusammenhang mit dem Umstand, dass Locals in der OPZ ein und aus gingen und dort Blicke auf die Lagekarte werfen konnten. Dieses Problem hatte man zum Glück zwischenzeitlich in Angriff genommen und die Zugangskontrolle zum Stabsgebäude verschärft. Jeder musste sich im Eingangsbereich ausweisen oder, falls er keine permanente Zugangsberechtigung besaß, einen Besucherschein ausfüllen und seinen Dienstausweis vorlegen. Diese Person wurde dann von einem anderen Soldaten abgeholt und dorthin gebracht, wo sie hin wollte.
Eines Tages saßen Alex und ich im Kaffeeraum neben der OPZ und überlegten lautstark, wie wir die Bedrohung durch Raketenbeschuss von außerhalb der AOR in den Griff bekommen könnten. Im selben Raum waren auch Major Schließmann, der Abteilungsleiter des J2, sowie andere Abteilungsleiter der KMNB. Schließmann schaltete sich ein: »Fahrt doch mal in die AOR-Randgebiete im Westen.« Das war ja schön und gut, würde uns aber nicht viel weiterbringen. Daraufhin meinte Schließmann: »Dann guckt doch mal, ob ihr was rauskriegen könnt. Wäre gut, wenn wir wüssten, wie die Lage außerhalb der AOR so ist.« Wir bekamen diesen Auftrag zum Verlassen der AOR natürlich nicht schriftlich. Alex und ich machten uns zu diesem Zeitpunkt keine Gedanken über die Folgen. Wir waren aus dieser Gegend beschossen worden, entsprechend wollten wir gerne dazu beitragen, die Bedrohung auszuräumen. Im Nachhinein könnte ich mir in den Hintern treten, dass ich diesen Auftrag so durchgeführt habe, ohne ihn mir schriftlich bestätigen zu lassen, wegen möglicher rechtlicher Konsequenzen. Die blieben glücklicherweise aus. Zumindest haben wir, wenn wir unsere Aufklärungsergebnisse aus Bereichen jenseits des Mandatsgebiets vorgelegt haben, niemals einen Rüffel wegen Verlassens der AOR bekommen. Uns drängte sich immer mehr der Gedanke auf, dass unser über die Grenzen hinausgehendes Engagement einkalkuliert wurde.
Alex und ich brachen morgens mit zwei Fahrern und zwei Fahrzeugen Richtung Westen auf, um hinter den Distrikt Paghman zu gelangen. Da das Camp weit im Osten lag, würden wir bis an die Grenzen der AOR eine ganze Weile unterwegs sein. Die Minenwarnungen beiderseits der Straße ließen mich frösteln. Die unvermeidlichen
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