Endstation Kabul
Diskussion einigten wir uns auf folgende Version: Wir hätten uns in der Karte geirrt, und unser GPS wäre ausgefallen. Bis wir gemerkt hätten, dass wir außerhalb der AOR sind, hätten wir unseren Fund gemacht. In der OPZ fragte uns einer der anwesenden Offiziere, wo wir diesen Fund gemacht hätten. Als wir ihm die Koordinaten nannten, kam überraschenderweise nur ein wissendes Lächeln – und kein Rüffel wegen Verlassens der AOR.
In der OPZ trafen wir auch Major Schließmann, den Chef der Abteilung J2. Er erzählte uns von einer Neuerung in der Stabsarbeit. Und zwar sollte bald das Datensammelsystem »Jasmin« installiert werden. In dieses Computer-Netzwerk, das seinen Namen dem Wortungetüm »Joint Analysis System Military Intelligence Network« verdankt, sollten künftig alle in diesem Fall in Afghanistan gesammelten Erkenntnisse zusammengetragen werden. Diese wurden, wie ich erst bei meinen Recherchen für dieses Buch erfuhr, nach Deutschland in das »Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr« (ZNBw) weitergeleitet. Alle in den Auslandseinsätzen von deutschen Soldaten gesammelten Erkenntnisse über Personen, Ereignisse und Waffen in den Einsatzgebieten werden seit 1998 im rheinischen Gelsdorf zusammengetragen, bewertet und der politischen wie militärischen Führung der Bundeswehr als Grundlage für ihre Entscheidungen zur Verfügung gestellt. Wie im Juni 2007 im Zusammenhang mit den Untersuchungsausschüssen zu Murat Kurnaz herauskam, sind viele zwischen 1999 und 2003 in Jasmin eingepflegte Informationen gelöscht worden – aus Versehen, wie es hieß.
Von diesem »Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr«, kurz ZNBw, hatte ich – und das als langgedienter Soldat – noch nie eine Silbe gehört, und das war wohl auch im Sinne des Erfinders. Hätte ich schon damals gewusst, dass unsere Informationen den ZNBw-Apparat füttern und dass dieser Geheimdienst der Bundeswehr eng mit dem BND verbandelt ist, in den er zum 1.1.2008 aufgegangen ist, wäre ich mir wohl wie der kleine Bruder von James Bond vorgekommen. Und vor allem hätte ich mir bei allen weiteren denkwürdigen Kontakten mit Offizieren der Nachrichtendienste die Frage gestellt, ob es sich nun um einen Vertreter des mir bekannten Geheimdienstes der Bundeswehr mit den drei Buchstaben (MAD für »Militärischer Abschirmdienst«) oder den mit den vier Buchstaben (ZNBw) handelte. Im Nachhinein ist mir natürlich sonnenklar, warum die Sicherheitsvorkehrungen mit der Installation von Jasmin erheblich verschärft wurden. In den entsprechenden Raum kämen nur die Bediener, niemand sonst herein, erklärte uns der Abteilungsleiter. Das beruhigte Alex und mich, zumal wir Schließmann gebeten hatten, mit unseren neuen Erkenntnissen doch bitte vorsichtig umzugehen in der OPZ.
Weil ihm unsere guten Aufklärungsergebnisse zu Ohren gekommen waren, fragte uns Major Schließmann, ob wir beide nicht komplett für seine Abteilung, also den J2, arbeiten wollen. Wir verneinten beide. Wir fanden, dass wir über die OPZ genug interessante Aufträge in der Pipeline hätten. Außerdem fanden wir es sympathischer, in der Abteilung J3, zuständig für die Lagebeurteilung und Einsatzzentrale des Verbands, aufgehängt zu sein. Dort hatten wir unsere Freiheit, die wir nicht ohne weiteres aufgeben wollten.
Mittlerweile waren die Bunkeranlagen fertiggestellt worden. In den nächsten Tagen sollten sie gleich einem Realitätscheck unterworfen werden. Es flog nämlich wieder mal eine Rakete in der Dämmerung in Richtung unseres Camps, was uns kurz vorher vom Warnsystem angezeigt wurde. Als ich mich zum mir zugeteilten Bunker bewegte, kam ich an einer anderen Anlage vorbei. Obendrauf saß ein sehr verstört dreinblickender Soldat. Mitten auf dem Bunker! »Sieh zu, dass du deinen Hintern in den Bunker bewegst«, rief ich ihm zu. »Wenn das Ding irgendwo in der Nähe einschlägt, hast du keine Chance!« Er guckte unglücklich und meinte: »Aber ich habe einen Befehl. Ich bin hier als Luftraumspäher abgestellt und soll anfliegende Raketen sofort melden!« Ich konnte es kaum glauben und rief ihm zu: »Okay. Aber es zählt immer der letzte Befehl. Und hiermit befehle ich dir: ab in den Bunker!« Das ließ er sich nicht zweimal sagen und kam meinem Befehl freudig und schnell nach. Auch ich sah zu, schnell in meinen Bunker zu kommen, und schüttelte nur den Kopf über den Befehl, den irgendein Vollidiot diesem armen Soldaten gegeben hatte.
Vor dem Hintergrund der Raketenbeschüsse
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