Endstation Kabul
zutiefst. Sie fühlen sich bis heute nicht ernst genommen und als afghanische Bürger respektiert.
Wäre es zu einer Eskalation zwischen Pakistan und Indien gekommen, hätte die Bundeswehr nicht nur ein Problem für die Folgen vor Ort, sondern bereits ausgearbeitete Operationspläne in der Schublade gehabt, wie mir mein Kamerad Dirk Schulze bei einem seiner Besuche im Hotel erzählte. Er war dabei, als eine Option an der Lagekarte besprochen wurde: Eine 300 Mann starke Bundeswehreinheit hätte über den Khyber-Pass und durch die »Tribal Areas« in Richtung der pakistanischen Großstädte Peshawar und Islamabad durchstoßen und deutsche Staatsangehörige evakuieren sollen. Das Ganze mit einem Tross aus Stab, Instandsetzung, aber auch Sanitätern und Feldküche, die noch nie in feindlichem Gebiet gewesen und bestimmt keine »Kämpfer« waren. Ohne Unterstützung aus der Luft, ohne Aufklärungsmittel für ABC-Kampfstoffe und ohne ausreichende Abwehrmaßnahmen gegen diese gefährlichen Waffen. Hätte mir dies jemand zu Hause erzählt, ich hätte ihn ausgelacht. Hier im Einsatzland war mir eher nach Heulen zumute, auch wenn das alles nach einem schlechten Scherz klang. Konsequenterweise begann ich nur noch Alex und mir selbst zu vertrauen. Einige wenige, die ich aus der Heimat kannte, waren in diesen »Kreis des Vertrauens« ebenfalls aufgenommen – aber sonst niemand.
Nach diesem beunruhigenden Intermezzo überprüften wir unsere Fahrzeuge, die auf dem normalen Hotel-Parkplatz standen. Dieser war zwar abgesperrt, aber eine Annäherung über den Berg war jederzeit möglich. Bei dieser täglichen Routine suchten wir nach versteckten Ladungen, die vielleicht unbemerkt angebracht worden waren. Im Hotel war natürlich ein ständiges Kommen und Gehen, niemand konnte alles und jeden überprüfen. Alex untersuchte die Fahrzeuge immer sehr vorsichtig auf Sprengkörper. Gewissenhaft und akribisch kontrollierte er den Unterboden, jede Ritze und jeden Spalt unter dem Fahrzeug. Ich war da ein bisschen pragmatischer. Ich setzte mich in den Wolf, startete und fuhr eine Runde – so egal war mir mittlerweile alles. Alex lachte dann immer und hielt sich die Ohren zu, versuchte aber trotzdem, einen größeren Abstand zwischen sich und dem Fahrzeug zu halten. Gott sei Dank passierte nichts.
Meine Einstellung wurde von Tag zu Tag schlimmer. Oft sah ich keinen Sinn in unserem Einsatz dort. Vor allem war mir schleierhaft, inwiefern ich Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigte, wie der damalige Verteidigungsminister Peter Struck vollmundig erklärt hatte. Hatte ich mir noch zu Beginn meine Verantwortung gegenüber meinem Heimatland und der Bundeswehr auf die Fahnen geschrieben, so bröckelte diese Haltung mehr und mehr. Mittlerweile sorgte ich mich primär darum, wie es Alex und mir ging und wie wir heil aus dem Einsatz nach Hause kämen.
Die Presse mit ihren Hunderten Koffern und Ausrüstungsteilen erschwerte unsere Arbeit enorm. Da wir für die Sicherheit in und um das Hotel verantwortlich waren, hatten wir eine Menge zu überprüfen. Die Medienleute stellten nämlich ihr Gepäck achtlos überall ab. Wir mussten ständig hin und her rennen und nachfragen, wem denn dieser oder jener Koffer gehört. Die Angst vor Bombenanschlägen war natürlich hoch und auch gerechtfertigt. Schließlich war das Hotel ein lohnendes Ziel, bis ans Dach vollgepackt mit westlichen Hotelgästen, ISAF-Soldaten und Abgeordneten der Loya Jirga.
Wenn ich schichtfrei hatte, hielt ich mich meistens in der Lobby auf, in der es den Umständen entsprechend sogar recht wohnlich war. In dem langen, schlauchartigen Raum waren Sitzecken mit bunten Kissen und Teppichen eingerichtet, und auf kleinen Tischen standen die landestypischen Samoware. Ich hatte mich im Vorfeld mit Alex geeinigt, dass ich schwerpunktmäßig die Nachtschicht übernehmen sollte. Es dauerte dort nie lange, bis sich jemand zu einem setzte und ein Gespräch begann. Das alles beherrschende Thema war natürlich: Was ist heute im Zelt der Loya Jirga passiert? Niemals nannte ich meinen richtigen Namen, mal war ich Joe, am nächsten Tag Derek und am Tag darauf Charlie. Ich machte mir sogar Notizen, mit wem ich redete und welchen Namen ich dabei benutzte. Weil ich in dem Hotel inzwischen zum Inventar gehörte und sich die Leute an mich gewöhnt hatten, ergaben sich gute Gespräche mit teilweise sehr interessanten Infos zur Lage im Verhandlungszelt. Infos, an die die wechselnden Offiziere mit
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