Endstation Kabul
Rashid Dostom, ein Usbeke, konnte zu einem Unruheherd avancieren. Der Mann, der zu einem der vier Vizepräsidenten gewählt worden war, hatte nicht nur eine kriegerische Vergangenheit. Mit seiner 20000 Mann starken Miliz hatte er in den 1990er Jahren den afghanischen Norden kontrolliert und unterhielt auch heute eine private Armee, die sich großen Zuspruchs erfreute.
Seine Privatarmee rekrutierte sich aus ehemaligen Mudjaheddin-Kämpfern und übergelaufenen Soldaten der afghanischen Armee. Das lag auch am Gehalt. Ein Soldat so einer Privatarmee verdiente damals bis zu 110 Dollar im Monat. Auszubildenden Rekruten der afghanischen Armee wurde nur die Hälfte, nämlich 55 Dollar, bezahlt. Viele der jungen perspektivlosen Afghanen ließen sich von den ISAF-Instrukteuren schulen. Danach nahmen sie schnurstracks den lukrativeren Job in einer der vielen privaten Armeen an. Wer sollte es ihnen verdenken? Zumal es in westlichen Armeen von der Bundeswehr bis zur amerikanischen Army die gleiche Tendenz gibt. Weil die Arbeit für private Sicherheitsdienste im In- und Ausland lukrativer ist, quittieren beispielsweise immer mehr Elitesoldaten des KSK oder andere Spezialkräfte ihren Dienst. In Krisengebieten tätige Wirtschaftsunternehmen heuern zur Absicherung ihres Personals immer wieder erfahrene Spezialkräfte, sogenannte »Contractors«, bei privaten Sicherheitsfirmen an. Ich erfuhr diese ganzen Zusammenhänge durch meine Informanten. Täglich lernte ich dazu, langsam erschloss sich mir das Zusammenspiel der verschiedenen Kräfte in diesem Land. Allerdings immer nur ein kleiner Teil davon. Für einen Europäer war es so gut wie unmöglich, dieses Verwirrspiel aus Ehrenkodex, Blutrache und Bestechungen zu verstehen.
Am nächsten Tag stand eine neue Aufgabe an. Alex und ich sollten den Personenschutz für einen afghanischen Wissenschaftler übernehmen. Er hatte eine Zeitlang in Deutschland gelebt und war zur Informationsgewinnung in die Loya Jirga eingeschleust worden. Das war dem Mann offensichtlich im Nachhinein nicht ganz geheuer. Er fürchtete um sein Leben, weshalb wir ihn bis zu seinem Rückflug bewachen sollten. Seine Sorge war nicht unbegründet. Während der ganzen Loya Jirga war es zu vielen Todesfällen gekommen. Etliche Frauen von Abgeordneten waren in dieser Zeit ermordet worden. Die betroffenen Abgeordneten reisten natürlich umgehend ab, um zu ihrer Familie heimzukehren. Aus religiösen Gründen müssen Muslime binnen 24 Stunden beerdigt werden. Insofern konnte ich gut verstehen, dass es dem Wissenschaftler mit seiner Todesangst sehr ernst war. Vor seiner Abreise, die nun aus Sicherheitsgründen Hals über Kopf für den nächsten Tag geplant wurde, wurde er von meinen beiden Bekannten vom Geheimdienst über eine Stunde lang verhört. Alex und ich mussten dazu den Raum verlassen. Ich postierte mich vor der Tür und wartete.
Am nächsten Morgen, gegen fünf Uhr, begann ich mit den Vorbereitungen für den Transfer zum Flughafen. Ich kontrollierte unsere Fahrzeuge auf versteckte Sprengladungen und bereitete eine Bristol-Weste für den Wissenschaftler vor. Alex hielt sich nahe dem Zimmer unserer Schutzperson auf und überwachte den Gang davor. Dreißig Minuten später machten wir uns auf den Weg Richtung Flughafen. Kabul erwachte immer sehr früh. Die Verkäufer auf den Märkten stellten bereits ihre Stände auf, und eine Menge Autos und Busse waren auch schon unterwegs. Wir fuhren nicht den direkten Weg zum KIA, sondern benutzten viele Schleichwege und kleinere Straßen. Hinter uns sicherte ein zweites Fahrzeug mit zwei Fernspähern aus dem Hotel. Nach einem Zickzack-Parcours durch die Stadt kamen wir schließlich im militärischen Teil des Flughafens an. Unser Passagier fühlte sich nun sichtlich wohler.
Am Flughafen befand sich ein anderes ISAF-Camp, die KMNB unter französischer Führung, das gerade erwachte. Eine Menge Soldaten waren auf dem Weg zum Verpflegungszelt oder kamen von dort zurück, um ihre Arbeitsbereiche aufzusuchen. Außerdem hielten sich etwa siebzig Soldaten des ersten Kontingents bereit und warteten im Abflugbereich auf ihren Aufruf für den Rückflug nach Deutschland. Dass unser kleiner Wissenschaftler mit der Bundeswehrmaschine nach Deutschland gebracht werden sollte, verdeutlichte mir noch einmal den Ernst der Situation, in der er sich befand. Üblich war das nicht. Als ich die ganzen Soldaten kurz vor dem Abflug sah, bekam ich ganz plötzlich Heimweh. Überall wurde geflachst und
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