Endstation Kabul
und noch immer voller Adrenalin, sank ich in einen unruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen quälte ich mich unter Schmerzen aus dem Feldbett. Ich war grün und blau geschlagen, jede Bewegung verursachte eine kleine Explosion in meinem Kopf. Ich betastete meinen Körper und fand nach eingehender Prüfung keine Brüche. Zum Glück! Es war auch so arg genug gekommen. Ich konnte mich nur humpelnd fortbewegen und verfluchte die sechs Gesellen von gestern. Nach meinem obligatorischen, dieses Mal etwas langsamer durchgeführten Gang durch das Hotel duschte ich mich mit rehbraunem Wasser, trank einen Kaffee und rauchte eine Zigarette. Langsam rührten sich meine Lebensgeister. Später hatte ich mein drittes Treffen mit meinen beiden Spezis vom Geheimdienst. Es war ein eher belangloses Gespräch, lediglich Smalltalk. Sie wollten nur wieder Verbindung aufnehmen, wie sie sagten. Doch dann wollten sie noch detailliert hören, was gestern vor dem Hotel los war. Als ich meinen Bericht abgeschlossen hatte und schließlich noch von der Reaktion meines Schichtleiters erzählte, lachten sie etwas ungläubig und behaupteten, dass es so etwas bei ihnen nicht geben würde. Ich dachte mir meinen Teil und wir verabschiedeten uns voneinander.
Am nächsten Tag war mal Zeit zum Verschnaufen, endlich. Die Loya Jirga verlief ruhig und geordnet. Ich lag auf meinem Balkon im »Standby«-Modus und beobachtete meinen Sicherungsbereich. Seit zwei Monaten war ich nun in diesem Land. Der Tag, an dem Alex das Land verlassen sollte, rückte immer näher. Es gab auch Neuigkeiten für meine weitere Verwendung. Man sagte mir, dass ich nach Alex’ Abreise vermutlich in der Abteilung J2 eingesetzt werde, also unter dem Kommando von Major Schließmann. Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte.
Für den Nachmittag des nächsten Tages war eine Pressekonferenz von Hamid Karzai angekündigt. Wir waren sehr gespannt, was er sagen und wie die Leute darauf reagieren würden. Aber unsere Erwartung wurde bitter enttäuscht. Karzai gab nur Allgemeinplätze von sich. Er äußerte sich zu Sicherheit und Kontinuität, lobte seine amerikanischen Freunde. Ich war ernüchtert. Klingt wie ein westlicher Politiker, dachte ich mir. Weder neue Erkenntnisse noch Informationen. Langsam machte sich ein Gefühl der Langeweile breit. Selbst unter den Pressevertretern merkte man diese Müdigkeit und Ernüchterung. Einige reisten sogar vorzeitig ab, das Interesse an der Loya Jirga tendierte langsam gegen null. So langsam begann ich mich wieder auf das Camp zu freuen. Komisch, vor zwei Wochen war es noch genau andersherum gewesen. Ich war einfach groggy, kam immer näher an meine körperliche und auch psychische Grenze. Als hätte er geahnt, dass ich ein bisschen Sonderzuwendung gut gebrauchen konnte, kam am nächsten Tag ein Kamerad vorbei und brachte mir eine Dose Ravioli. Obwohl es erst neun Uhr am Morgen war, machte ich sie mir gleich auf dem Kocher heiß und verzog mich damit auf den Balkon. Ich freute mich wie ein Schneekönig über diese matschigen Nudeltaschen in roter Soße. Nach über zwei Wochen Epa – also Linsensuppe oder Cevapcici morgens, mittags, abends – zelebrierte ich diese Mahlzeit wie einen feierlichen Akt: Genüsslich mampfte ich meine Ravioli, von denen ich nicht mal Alex einen Teil abgegeben hätte, wenn er denn was gewollt hätte. In Deutschland wäre mir nicht im Traum eingefallen, so ein Gewese um eine Dose Ravioli zu machen. Aber hier in Afghanistan, unter diesen Bedingungen, war es etwas ganz Besonderes – ein Festmahl, das ich bewusst genießen wollte und auch genoss. Insgesamt freute ich mich mehr an den kleinen Dingen des Alltags, ganz anders als in der Heimat. In Deutschland war es selbstverständlich, dass man zu essen hat, ein Dach über dem Kopf und seine Meinung, sofern man eine hat, frei äußern kann. Die Afghanen konnten von all dem nur träumen. Sie lebten von Tag zu Tag, von Minute zu Minute und versuchten das Beste aus ihrer misslichen Situation zu machen, um sich und vor allem ihre Kinder zu ernähren. Nachdenklich kaute ich meine Ravioli.
Nach zwei weiteren eher ruhigen Routinetagen war das Ende der Loya Jirga bereits in Sicht: Am 19. Juni sollten die Minister bekanntgegeben werden, ein letzter Höhepunkt. Das Ergebnis war vor allem für die Amerikaner und auch die ISAF-Truppen nicht ganz zufriedenstellend, denn hinter die Namen einiger Minister musste man ein großes Fragezeichen machen. Besonders »General« Abdul
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