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Endstation Kabul

Endstation Kabul

Titel: Endstation Kabul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Achim Wohlgethan
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seine Frage zu nicken. Wie war dieser Knirps bloß hierher geraten? Ich war sprachlos. Da von mir nichts kam, sagte er dann: »Ich bin acht Jahre alt.« Ich überwand meine Verblüffung und fragte ihn: »Wo kommst du denn her?« Und dann erzählte er mir seine Geschichte. Er komme eigentlich aus Frankfurt am Main. Dort sei er geboren worden und auch aufgewachsen. Dann sei vor sechs Wochen seine Mutter ausgewiesen worden (einen Vater erwähnte er nicht), und seit dieser Zeit lebe er nun hier.
    Ich schluckte und mir schossen tausend Dinge durch meinen Kopf. »Und, was machst du jetzt hier?«, fragte ich ihn hilflos. Er schaute mich treuherzig an und sagte »Zur Schule gehen. Aber das macht mir nicht so viel Spaß wie in Frankfurt.« Als ich ihn fragend anschaute, erklärte er, dass er die Sprache nicht gut verstehe und deswegen tagaus, tagein von den anderen Kindern geärgert und gehänselt werde. Auch der Lehrer schlage ihn jeden Tag, da er im Unterricht nicht gut mitkomme.
    Was ich da hörte, gefiel mir nicht. Wie sollte dieser kleine Wurm in nur sechs Wochen seinen Kulturschock verdauen und die Sprache lernen? Herausgerissen aus einem Leben in einer deutschen Großstadt, verpflanzt in ein afghanisches Wüstenstädtchen fern jeder Zivilisation? Während diese Fragen durch mein Hirn ratterten, sagte er mir noch mit großen Augen: »Ich bin eigentlich doch ganz lieb! Warum hauen die mich hier?« Ich war völlig von der Rolle, Wut stieg in mir auf. Ich konnte ja verstehen, wenn ein Staat Ausländer ausweist, die kriminell geworden waren. Aber warum dieser achtjährige Junge und seine Mutter das heimische Deutschland verlassen mussten, entzog sich völlig meinem Verständnis. Ist die deutsche Gesetzgebung wirklich so herzlos, so etwas zuzulassen?
    Ich verstand die Welt nicht mehr. Hatte ich mich vorher für Fragen wie das Asylrecht nicht besonders interessiert, war ich nun umso schockierter. Am liebsten hätte ich mir den Kleinen gegriffen, ihn in unser Fahrzeug gepackt und wäre mit ihm zum KIA gefahren, um ihn zurück nach Deutschland zu verfrachten – was ja schlecht möglich war. Was also tun? In meiner Hilflosigkeit fragte ich ihn einfach: »Und? Was machen wir jetzt?« Seine Antwort brachte mich keinen Schritt weiter: »Kannst du mich mit zurück nach Deutschland nehmen?«, fragte er voll ängstlicher Hoffnung. Ich bekam einen dicken Kloß im Hals und sagte: »Warte, ich muss mal kurz mit jemandem sprechen.« Ich ging zu Andrik und schilderte ihm die Situation. Er nickte nachdenklich und fragte mich, was mein Plan sei. »Lass mich mal machen«, sagte ich. Ich holte meinen Gefechtshelm und meine Uniform-Ersatzjacke mit ISAF-Button am Revers aus meinem Rucksack. Dann nahm ich den rohrstockschwingenden Lehrer und unseren Sprachmittler ins Schlepptau. Die beiden schauten irritiert, als wir nun vor dem kleinen Frankfurter standen. Ich fackelte nicht lange und steckte ihn in die natürlich viel zu große Uniformjacke. Sie reichte ihm fast bis zu den Knien. Dann setzte ich ihm noch den Helm auf den Kopf und hob ihn in eins unserer Fahrzeuge.
    Erwartungsvoll guckte mich der Junge an. »So, mein Kleiner, wir drehen jetzt mal eine Runde. Und du bist der Kapitän. Siehst du hier die Schalter, Hebel und Knöpfe?« Er nickte. »Gut, und die stehen jetzt unter deinem Kommando. Du darfst so viel daran rumschalten, wie du willst.« Seine Augen, die unter dem riesigen Helm kaum noch zu erkennen waren, begannen zu leuchten. »Na dann, los geht’s«, munterte ich ihn auf und gab meinem Kollegen am Steuer ein Zeichen zum Losfahren. Sogleich betätigte der Kleine eifrig und mit glühendem Gesicht alle Schalter, die er erreichen konnte. In der Zwischenzeit griff ich mir seinen Lehrer und ließ den Sprachmittler übersetzen. »Hör gut zu. Dieser kleine Junge ist ab sofort Soldat der ISAF. Und wir werden regelmäßig vorbeikommen, um nach dem Rechten zu sehen. Wenn uns der Junge erzählt, dass er wieder verprügelt wurde – und zwar von seinen Mitschülern oder etwa von dir –, dann kreist hier der Hammer. Du wirst doch nicht etwa selbst wissen wollen, wie sich Rohrstockschläge auf dem blanken Hintern anfühlen, oder?«
    Der Lehrer schaute mich ängstlich an und schluckte. Ich sah, wie es in ihm arbeitete. Er versuchte, in meinem Gesicht zu lesen, ob es mir ernst war und ob ich meine Ankündigung wahr machen würde. Um uns herum zog der Jeep unter lautem Gehupe und Geblinke seine Kreise. Der Lehrer kam wohl zu dem Schluss, dass es

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