Endstation Kabul
er heraus mit der Sprache. Es seien »alleinstehende« Frauen, die dort allein oder mit ihren Kindern wohnten. Dabei verzog er ein bisschen sein Gesicht, als wäre das Wort an sich schon widerlich genug. Neugierig geworden, bohrten wir weiter nach, was es damit auf sich habe und wo das Problem sei. Alleinstehende und alleinerziehende Frauen gab es in Deutschland und ganz Europa wie Sand am Meer, wieso mussten sie hier wie in einem Ghetto zusammenleben? Er erklärte uns, diese Frauen seien »ohne Ehre«. Wieder verzog er das Gesicht bei der Erklärung. In diesem Ort lebten Frauen, die ein uneheliches Kind zur Welt gebracht oder ihren Mann verloren hatten. Zum Beispiel, weil er im Krieg gestorben war oder sich von seiner Frau hatte scheiden lassen. Auch waren einige ehemalige Gefängnisinsassinnen darunter. Das sind in Afghanistan alles Gründe, die unweigerlich einen Ausschluss aus der Gemeinschaft nach sich ziehen und hier eine »Stadt der ehrlosen Frauen« hatten entstehen lassen. Die Bewohnerinnen waren ganz auf sich gestellt und mussten sich in dieser Abgeschiedenheit selbst versorgen. Wie sie das machten, überließ Mustafa unserer Fantasie.
Schweigend fuhren wir an den schmucklosen Plattenbauten vorbei und sahen uns betreten um. Viele der Frauen, die auf Balkonen und vor den Häusern standen, machten eindeutige Handbewegungen in unsere Richtung. Sie forderten uns auf, in ihre Wohnung hereinzukommen. Wir versuchten diese verzweifelten Gesten zu ignorieren und schwiegen betreten. Diese Frauen hatten in dieser Gesellschaft nicht die geringste Chance, nochmals Fuß zu fassen. Ich kam mir vor, als ob wir durch eine Leprakolonie fuhren. Als seien die Frauen Aussätzige, Unberührbare. Dieser Eindruck verstärkte sich noch durch den Umstand, dass alle, wirklich alle Frauen unverhüllt waren. Keine einzige Burka war zu sehen. Wozu auch, wenn sie ohnehin als ehrlos abgestempelt waren? Mit traurigen, oft leeren Augen verfolgten diese Ausgestoßenen unseren Weg.
Ich verstand das alles nicht und fragte Mustafa, womit die Frauen dieses Los verdient hätten. »Sie sind halt schamlos gewesen«, war seine lapidare Antwort. Ihm war keine Reaktion auf dieses Elend zu entlocken. Was für ihn – einen relativ aufgeklärten und des Englischen mächtigen Afghanen – absolut normal und verständlich war, ließ uns alle die Köpfe schütteln über die Grausamkeit und Härte, die in diesem Land herrschten. Ohne Mitleid wurden die Ärmsten der Armen schlimmer als Tiere behandelt. Tiere stellten sogar noch einen höheren Wert in der Gesellschaft dar, konnte man doch Nutzen aus ihnen ziehen. Diese Frauen waren aber nur noch Ballast, für den sich niemand – nicht einmal die eigene Familie! – interessierte. Die Ehrlosen existierten am Rande der Gesellschaft, lebten von deren spärlichen Resten und Abfällen. Sie konnten sich nur durch Betteln oder Prostitution ernähren. Am liebsten hätte ich mir Mustafa geschnappt und ihm Vernunft eingebläut. Wieder quälte mich dieses Gefühl der Machtlosigkeit. Vor nicht mal einer Stunde hatten wir diesem kleinen Kerl aus Frankfurt geholfen. Und dann wurde binnen weniger Augenblicke dieses Gefühl, man könne etwas bewirken, brutal zerstört.
Schweigend und jeder für sich in Gedanken versunken fuhren wir weiter. Niemand redete oder schlug vor, Lieder raten zu spielen, um uns die Zeit zu vertreiben oder ein bisschen abzulenken. Wir waren auf dem harten Boden der Realität angekommen. Was bringt denn dieser Einsatz, unsere Hilfe, wenn wir sie nur nach den eigenen Gesetzen dieser Gesellschaft leisten dürfen?, fragte ich mich. Wenn alleinerziehenden Frauen nicht geholfen werden kann? Mir wurde mal wieder bewusst, wie verschieden unsere Kulturen doch sind. Und wie unterschiedlich die Einschätzung bestimmter Sachlagen oder Vorgehensweisen war. Und ich war erschüttert, wie gering in manchen Fällen der Wert eines Menschenlebens eingeschätzt wurde. Zurück in unserer OPZ, gaben wir unsere Einschätzung und die Koordinaten dieser »Totensiedlung« zu Protokoll. Im Gegensatz zum Kinderhort hörte ich aber nicht, dass den Frauen dort Hilfe angeboten wurde. Das war wohl auch ISAF ein zu heißes Eisen. An diesem Abend begleitete mich ein Gedanke in den Schlaf, und der hieß schlicht: scheiß Diplomatie!
Auge in Auge mit
afghanischen Kämpfern
Nach all den bedrückenden Erlebnissen der letzten Tage waren wir froh, wieder nach Paghman zu kommen, wo wir inzwischen fast heimisch waren. Routineaufgaben
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