Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung

Titel: Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
meines Vater geklont worden war, aber das Gedicht drückte die ganze Sensibilität meines Vaters aus.« Bevor ich eine Frage stellen konnte, fuhr sie fort: »Er war kein Philosoph. Er war jung, sogar jünger als du, und sein philosophisches Vokabular war recht primitiv, aber in diesem Gedicht hat er versucht, die Stadien auszudrücken, über die wir eine Verschmelzung mit dem Universum erreichen. In einem Brief nannte er diese Stadien ›eine Art von Freudenthermometer‹.«
    Ich muss gestehen, ich war überrascht und ein wenig außer Fassung nach dieser kurzen Ansprache. Ich hatte Aenea noch nie so ernst über etwas reden oder derart gewichtige Worte benutzen hören, aber der Teil mit dem
    »Freudenthermometer« kam mir ein wenig unanständig vor. Dennoch hörte ich zu, als sie fortfuhr.
    »Vater glaubte, das erste Stadium menschlichen Glücks wäre eine
    ›Bruderschaft mit der Essenz‹«, sagte sie leise. Ich konnte sehen, dass A. Bettik von seinem Platz am Ruder ebenfalls zuhörte. »Damit«, sagte sie,
    »meinte Vater eine fantasievolle und sinnliche Reaktion auf die Natur...
    genau die Art von Gefühl, die du vorhin beschrieben hast.«
    Ich rieb mir die Wangen und spürte die längeren Stoppeln. Noch ein paar Tage ohne Rasur, und ich würde einen Vollbart haben. Ich trank meinen Kaffee.
    »Vater schloss Dichtung und Musik und Kunst als Teil dieser Reaktion auf die Natur ein«, sagte sie. »Es ist ein fehlbarer, aber menschlicher Weg, das Universum widerzuspiegeln – die Natur erschafft diese schöpferische Energie in uns. Für Vater waren Fantasie und Wahrheit ein und dasselbe.
    Er hat einmal geschrieben – ›Die Fantasie kann man mit Adams Traum vergleichen – er erwachte und stellte fest, dass der Traum die Wahrheit war.‹« »Ich bin nicht sicher, ob ich das verstanden habe«, sagte ich.
    »Bedeutet das, Dichtung ist wahrer als... Wahrheit?«
    Aenea schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, er meinte... nun, im selben Gedicht findet sich eine Hymne an Pan –

    Erhabener Öffner der geheimnisvollen Tore,
    Die zur Allwissenheit uns führen.«

    Aenea blies in ihre Tasse heißen Tee, um ihn abzukühlen. »Für Vater wurde Pan zu einer Art Symbol der Fantasie... speziell der romantischen Fantasie.« Sie trank von dem Tee. »Hast du gewusst, Raul, dass Pan der allegorische Vorläufer von Christus war?«
    Ich blinzelte. Das war dasselbe Kind, das zwei Nächte zuvor Gespenstergeschichten hören wollte. »Christus?«, sagte ich. Ich war so sehr Kind meiner Zeit, dass ich schon bei einer Andeutung von Blasphemie zusammenzuckte.
    Aenea betrachtete die Monde. Sie hatte den linken Arm um ihre Knie geschlungen. »Vater glaubte, dass manche Menschen – nicht alle – von ihrer Reaktion auf die Natur so sehr bewegt wurden, dass diese elementare, Pan-ähnliche Fantasie sie beflügelte.

    Bleib stets der unergründlich tiefe Hort
    Der einsam Denkenden, du magst zum Tort
    Sie auch zum wahren Himmelsborn erst leiten,
    Dann ratlos lassen; wohl musst du dich breiten
    Ein Sauerteig im dumpfen Erdenleben
    Und ihm zum Ätherflug den Anstoß geben,
    Ein Sinnbild der Unendlichkeit uns sein,
    Ein Firmament im Meereswiderschein,
    Ein Element, den Raum um uns zu füllen,
    Ein Unbekanntes...«

    Nach diesem Vortrag schwiegen wir alle einen Moment. Ich war aufgewachsen mit Dichtung – die primitiven Epen der Schafhirten, die Cantos des alten Dichters, das Garten-Epos vom jungen Tycho und Glee und dem Zentaur Raul –, daher war ich daran gewöhnt, Verse unter dem Sternenhimmel zu hören. Aber die meisten Gedichte waren leichter zu verstehen als dieses.
    Nach einem Augenblick der Stille, in dem nur das Plätschern der Wellen und der Wind zu hören waren, sagte ich: »Das war also die Vorstellung, die dein Vater vom Glücklichsein hatte?«
    Aenea warf den Kopf zurück, sodass ihr Haar im Wind flatterte. 
    »O nein«, sagte sie. »Nur das erste Stadium des Glücks auf seinem Freudenthermometer. Es gab noch zwei höhere Stadien.«
    »Was waren die?«, sagte A. Bettik. Die sanfte Stimme des Androiden ließ mich fast vor Schreck erstarren; ich hatte vergessen, dass er sich bei uns auf dem Floß befand.
    Aenea schloss die Augen; ihre Stimme klang weich, melodisch und frei vom Singsang derer, die Dichtung ruinieren.

    »Doch wir finden:
    Es gibt noch reich‘re Zauber, die uns binden,
    Die uns der Selbstvernichtung Pfad gewiesen
    Mit höchster Kraft: Die Krone alles diesen,
    Aus Liebe und aus Freundschaft eng verbunden,
    Ward um der

Weitere Kostenlose Bücher