Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
Menschheit hohe Stirn gewunden.«
Ich schaute auf zu den Staubstürmen und Vulkanausbrüchen des gigantischen Mondes. Sepiafarbene Wolken zogen über die orange- und umbrafarbene Landschaft dort oben. »Das also sind seine anderen Stadien?«, sagte ich ein wenig enttäuscht. »Zuerst die Natur, dann Liebe und Freundschaft?«
»Nicht ganz«, sagte das Mädchen. »Vater glaubte, dass wahre Freundschaft zwischen Menschen sich auf einer noch höheren Ebene als unsere Reaktion auf die Natur abspielte, aber die höchste erreichbare Stufe die Liebe sei.«
Ich nickte. »Wie es die Kirche lehrt«, sagte ich. »Die Liebe Christi... die Nächstenliebe.«
»Hnh-nnn«, sagte Aenea und trank den letzten Rest ihres Tees. »Vater meinte erotische Liebe. Sex.« Sie schloss die Augen...
»Seit ich gekostet ihrer Seele Kern,
Ist alles leer, dass mir, was jüngst noch Geist,
Jetzt nichts als seine schmutzge Hefe weist,
Die meine Wurzel zu befruchten sucht,
Dass meine Zweige eine goldne Frucht
Zum Himmelsflor erheben.«
Ich gebe zu, dass ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte. Ich schüttete den letzten Rest Kaffee aus meiner Tasse, räusperte mich, betrachtete einen Moment die kreisenden Monde und die noch sichtbare Milchstraße und sagte dann: »Und? Glaubst du, dass er Recht hatte?« Kaum hatte ich es gesagt, hätte ich mir in den Hintern treten können. Ich redete hier mit einem Kind. Sie mochte alte Dichtung oder meinethalben auch alte Pornografie zitieren, aber verstehen konnte sie sie auf gar keinen Fall.
Aenea sah mich an. Ihre großen Augen leuchteten im Mondlicht. »Ich glaube, es gibt mehr Ebenen im Himmel und auf Erden, Horatio, als sich die Philosophie meines Vaters erträumen ließ.«
»Ich verstehe«, sagte ich und dachte: Wer, zum Teufel, ist Horatio?
»Mein Vater war sehr jung, als er das geschrieben hat«, sagte Aenea. »Es war sein erstes Gedicht, und es war ein Flop. Was er wollte – was sein Held, der Schafhirt, lernen sollte –, war, wie exaltiert alles sein konnte –
Dichtung, Natur, Weisheit, die Stimmen von Freunden, Heldentaten, der Ruhm fremder Stätten, die Faszination des anderen Geschlechts. Aber er hörte auf, bevor er zur wahren Essenz vorstieß.«
»Welcher wahren Essenz?«, fragte ich. Unser Floß stieg und fiel mit dem Atem des Meeres.
»Erforscht er der Substanzen und der Formen«, flüsterte das Mädchen,
»symbolische Essenz...«
Warum kamen mir diese Worte so bekannt vor? Ich brauchte eine Weile, bis ich mich daran erinnerte. Unser Floß trieb weiter durch die Nacht und das Meer von Mare Infinitus.
Wir schliefen wieder ein, bevor die Sonnen aufgingen, und nach einem zweiten Frühstück machte ich mich daran, die Waffen zu begutachten.
Philosophische Dichtung bei Mondschein war gut und schön, aber Waffen, die zielgenau und treffsicher schossen, waren eine Notwendigkeit.
Ich hatte keine Zeit gehabt, die Schusswaffen an Bord des Schiffes oder nach unserer Notlandung auf der Dschungelwelt zu testen, und es machte mich nervös, Waffen herumzutragen, die nicht abgefeuert und eingeschossen worden waren. In meiner kurzen Zeit bei der Heimatgarde und den langen Jahren als Jagdführer hatte ich längst herausgefunden, dass es mindestens genauso wichtig war – und wahrscheinlich wichtiger –, mit einer Waffe vertraut zu sein, als ein teures Gewehr zu haben.
Der größte Mond stand immer noch am Himmel, als die Sonnen aufgingen – erst das kleinere Gestirn des Doppelsterns, das die Milchstraße ausblendete und die Einzelheiten auf dem größten Mond verwischte, dann das Primärgestirn, kleiner als Hyperions Sol-ähnliche Sonne, aber sehr hell.
Der Himmel nahm einen tiefen Ultramarinfarbton an, dann ein noch dunkleres Kobaltblau, als beide Sterne leuchteten und der orangerote Mond den Himmel hinter uns ausfüllte. Das Sonnenlicht machte aus der Atmosphäre des Mondes eine dunstige Scheibe und verwischte sämtliche Oberflächenkonturen. In der Zwischenzeit wurde der Tag warm, dann heiß, dann glühend.
Der Seegang nahm ein wenig zu, aus den sanften Wellen wurden zwei Meter hohe Wogen, die das Floß durchschüttelten, aber sie kamen in so weitem Abstand, dass wir sie ohne größeres Unbehagen abreiten konnten.
Das Meer hatte einen beunruhigenden violetten Farbton, wie in dem Reiseführer gestanden hatte, die Wellenkämme dagegen waren so dunkelblau, dass sie fast schwarz wirkten, und hin und wieder wurde alles von Teppichen gelben Kelps oder Schaumkronen unterbrochen,
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