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Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung

Titel: Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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    »Sie werden sich erinnern, dass Seine Heiligkeit nach seiner ersten Auferstehung beschloss, diese Etage wieder zu beziehen, weil er so begeistert von seinem Namensvetter Julius dem Zweiten war«, sagt Monsignore Oddi und deutet mit einer anmutigen Handbewegung den langen Korridor hinab.
    »Ja«, sagt de Soya. Sein Herz pocht wild. Papst Julius II. – der berühmte Kriegerpapst, der während seiner Regentschaft von 1503 bis 1513 n. Chr.
    die Decke der Sixtinischen Kapelle in Auftrag gegeben hatte – war der Erste gewesen, der in diesen Räumlichkeiten gewohnt hatte. Nun hat Papst Julius – in sämtlichen Inkarnationen von Julius VI. bis Julius XIV. – fast siebenundzwanzigmal so lange hier regiert wie das Jahrzehnt, das jenem ersten Kriegerpapst vergönnt gewesen war. Es konnte doch unmöglich sein, dass er den Heiligen Vater treffen sollte! De Soya schafft es, äußerlich ruhig zu wirken, als sie den langen Flur entlangschreiten, aber seine Handflächen sind feucht und sein Atem geht rascher.
    »Natürlich besuchen wir das Sekretariat«, sagt Oddi lächelnd, »aber wenn Sie die päpstlichen Gemächer noch nicht gesehen haben, ist es ein angenehmer Spaziergang. Seine Heiligkeit befindet sich den ganzen Tag in dem kleineren Saal des Nervi-Gebäudes auf einer Sitzung mit der Interstellaren Bischofskonferenz.«
    De Soya nickt aufmerksam, aber in Wahrheit gilt seine Aufmerksamkeit den stanze Raffaels, auf die er im Vorbeigehen einen Blick durch die offenen Türen der päpstlichen Gemächer werfen kann. Er kennt den geschichtlichen Hintergrund in groben Zügen: Papst Julius II. hatte die
    »altmodischen« Fresken von mittelmäßig begabten Künstlern wie Piero della Francesca und Andrea del Castagno satt und hatte im Herbst 1508 ein sechsundzwanzigjähriges Genie namens Raffaello Sanzio – auch Raffael genannt – aus Urbino geholt. Durch eine Tür kann de Soya die Stanzet della Segnatura sehen, mit den beiden überwältigenden Fresken, die den Triumph der religiösen Wahrheit im Kontrast zum Triumph der philosophischen und wissenschaftlichen Wahrheit darstellen.
    »Ahhh«, sagt Monsignore Oddi und bleibt stehen, damit de Soya einen Moment verweilen und staunen kann. »Es gefällt Ihnen, was? Sehen Sie Platon dort unter den Philosophen?«
    »Ja«, sagt de Soya.
    »Wissen Sie, mit wem er tatsächlich Ähnlichkeit hat? Wer Modell gestanden hat?«
    »Nein«, sagt de Soya.
    »Leonardo da Vinci«, sagt der Monsignore mit der Andeutung eines Lächelns. »Und Heraklit – sehen Sie ihn dort? Wissen Sie, wen Raffael hier abgebildet hat?«
    De Soya kann nur den Kopf schütteln. Er erinnert sich an die winzige, aus Lehmziegeln erbaute Mariaistenkapelle auf seiner Heimatwelt, wo der Wind ständig Sand unter der Tür durchwehte, sodass er sich unter der schlichten Statue der Jungfrau sammelte.
    »Heraklit war Michelangelo«, sagt Monsignore Oddi. »Und Euklid dort...
    da sehen Sie ihn... das war Bramante. Treten Sie ein, kommen Sie näher.«
    De Soya wagt kaum, einen Fuß auf den dicken, kostbaren Teppich zu setzen. Die Fresken, Statuen, vergoldeten Rahmen und hohen Fenster des Zimmers scheinen sich um ihn zu drehen.
    »Sehen Sie die Buchstaben auf Bramantes Kragen dort? Kommen Sie, beugen Sie sich näher hin, können Sie sie lesen, mein Sohn?«
    »R-U-S-M«, liest de Soya.
    »Ja, ja«, kichert Monsignore Lucas Oddi. »Raffael Urbinus Sua Manu.
    Kommen Sie, kommen Sie, mein Sohn... übersetzen Sie das für einen alten Mann. Ich glaube, Sie haben diese Woche Ihre Lateinkenntnisse etwas auffrischen können.«
    »Raffael von Urbino«, übersetzt de Soya, murmelt aber mehr zu sich selbst als zu dem größeren Mann, »von eigener Hand.«
    »Ja. Kommen Sie. Wir nehmen den päpstlichen Lift in die Gemächer hinab. Wir sollten den Kardinal-Staatssekretär nicht warten lassen.«
    Die Borgia-Gemächer beanspruchen einen Großteil des Erdgeschosses in diesem Flügel des Palasts. Sie betreten es durch die winzige Kapelle von Nikolaus V., und Pater Captain de Soya denkt, dass er noch niemals ein bezaubernderes Menschenwerk gesehen hat als diesen kleinen Raum. Die Fresken hier sind zwischen 1447 und 1449 n. Chr. von Fra Angelico gemalt worden und verkörpern die Essenz des Einfachen, den Inbegriff der Reinheit. Hinter der Kapelle werden die Borgia-Gemächer dunkler und geheimnisvoller, so wie die Geschichte der Kirche unter den Borgia-Päpsten dunkler geworden war. Aber in Gemach IV angelangt – das Arbeitszimmer von

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