Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
reißt die verzogene Tür auf. Die Fahrstühle sind längst in den rund achtzig Stockwerke tiefer gelegenen Keller abgestürzt.
Rhadamanth Nemes betritt den offenen Schacht und stürzt mit 33,2
Metern pro Sekunde in die Tiefe. Als sie Lichter vorbeihuschen sieht, hält sie sich an einem Stahlträger fest. Sie hat längst ihre Endgeschwindigkeit von mehr als fünfhundert Klicks pro Stunde erreicht und bremst in nicht einmal drei Hundertstelsekunden auf null ab.
Nemes tritt aus dem Fahrstuhl in das Zimmer und bemerkt die Möbel, die Laternen, die Bücherregale. Der alte Mann ist in der Küche. Er hebt den Kopf, als er die raschen Schritte hört. »Raul?«, sagt er. »Aenea?«
»Genau«, sagt Rhadamanth Nemes, schiebt zwei Finger unter das Schlüsselbein des alten Priesters und hebt ihn vom Boden hoch. »Wo ist das Mädchen Aenea?«, fragt sie leise. »Wo sind sie alle?«
Erstaunlicherweise schreit der blinde Priester nicht vor Schmerz auf. Er beißt die abgenutzten Zähne zusammen und starrt mit den blinden Augen zur Decke, sagt aber nur: »Ich weiß es nicht.«
Nemes nickt und lässt den alten Priester auf den Boden fallen. Sie setzt sich breitbeinig auf seine Brust, legt ihm den Zeigefinger auf ein Auge und feuert eine Suchermikrofaser in sein Gehirn, deren Sonde sich einen Weg zu einer bestimmten Region seines Zerebralkortex sucht.
»Also, Pater«, sagt sie, »versuchen wir es noch einmal. Wo ist das Mädchen? Wer ist bei ihr? Wo sind sie?«
Die Antworten fließen als kodierte Energieimpulse sterbender Nervenzellen durch die Mikrofaser.
46
Unsere Tage bei Pater Glaucus waren bemerkenswert wegen ihres Komforts, ihrer langsamen Gangart nach so vielen Wochen gehetzter Flucht und wegen der Gespräche. Ich glaube, am deutlichsten erinnere ich mich an die Gespräche.
Kurz bevor die Chitchatuk zurückkehrten, erfuhr ich einen der Gründe, weshalb A. Bettik diese Reise mit mir unternommen hatte.
»Haben Sie Geschwister, M. Bettik?«, fragte Pater Glaucus, der sich nach wie vor weigerte, die Androidenanrede zu gebrauchen.
Zu meinem Erstaunen sagte A. Bettik: »Ja.« Wie konnte das sein?
Androiden wurden entworfen und biofakturiert, aus genetischen, in Bottichen gezüchteten Komponenten zusammengesetzt... ich hatte mir das immer vorgestellt wie Organe, die für Transplantationen gezüchtet wurden.
»Während unserer Biofaktur«, fuhr A. Bettik fort, da der alte Priester nicht locker ließ, »wurden Androiden für gewöhnlich in
Wachstumskolonien von fünf geklont – normalerweise vier Männer und eine Frau.«
»Fünflinge«, sagte Pater Glaucus von seinem Schaukelstuhl. »Sie haben drei Brüder und eine Schwester.«
»Ja«, sagte der Mann mit der blauen Haut.
»Aber bestimmt wurden Sie nicht...«, begann ich und verstummte. Ich rieb mir das Kinn. Ich hatte mich hier in dem seltsamen Heim von Pater Glaucus rasiert – das schien mir unter den Umständen angebracht zu sein –, und das Gefühl glatter Haut setzte mich beinahe in Erstaunen. »Aber sicher sind Sie nicht zusammen aufgewachsen«, sagte ich. »Ich meine, wurden Androiden denn nicht...«
»Als Erwachsene biofakturiert?«, sagte A. Bettik mit demselben verhaltenen Lächeln. »Nein. Unser Wachstumsprozess wurde beschleunigt
– wir erreichten die körperliche Reife mit etwa acht Standardjahren –, aber es gab eine Periode der Kindheit und des Heranwachsens. Diese Verzögerung war ein Grund, warum die Biofaktur von Androiden fast unerschwinglich teuer war.«
»Wie hießen Ihre Brüder und Schwestern?«, fragte Pater Glaucus.
A. Bettik schlug das Buch zu, in dem er geblättert hatte.
»Traditionsgemäß musste jedes Mitglied des Quintetts in alphabetischer Folge getauft werden«, sagte er. »Meine Geschwister sind A. Antibe, A. Corresson, A. Darria und A. Ewik.«
»Wer war deine Schwester?«, fragte Aenea. »Darria?«
»Ja.«
»Wie war deine Kindheit?«, fragte das Mädchen.
»Vorwiegend bestand sie aus Ausbildung, Training für unsere Pflichten und Definierung unserer Dienstleistungsparameter«, sagte A. Bettik.
Aenea lag auf dem Teppich und stützte das Kinn auf die Hände. »Warst du in der Schule? Hast du gespielt?«
»Wir wurden in der Fabrik unterrichtet, aber die Masse unseres Wissens wurde uns per RNS-Transfer vermittelt.« Der kahle Mann sah Aenea an.
»Und wenn du mit ›spielen‹ meinst, ob ich Zeit hatte, mich mit meinen Geschwistern zu entspannen, lautet die Antwort ja.«
»Was ist aus deinen Geschwistern geworden?«,
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