Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
Wiedersehen war ich überrascht gewesen, dass er keinen Haken für sich angefertigt hatte – sein linker Arm endet immer noch in einem glatten Stumpf halb zwischen Handgelenk und Ellbogen –, aber ich sah bald, wie er ein Lederband und anderes Zubehör aus Leder benutzte, um den Verlust der Finger wettzumachen. »Ja, M. Endymion«, sagt er. »Der Hochweg. Das geht viel schneller. Ich bin einverstanden. Es sei denn, Sie möchten einen der Flieger als Kurier benutzen.«
Ich sehe ihn an, weil ich annehme, dass er einen Scherz macht. Die Flieger sind ein besonderer Schlag, sie sind verrückt. Sie starten mit ihren Paragleitern von den hohen Bauwerken, lassen sich von den Aufwinden zwischen den gewaltigen Felswänden tragen, überqueren die weiten Strecken zwischen den Simsen und Gipfeln, wo es keine Kabel oder Brücken gibt, beobachten die Vögel und studieren die Thermik, als hinge ihr Leben davon ab... weil ihr Leben tatsächlich davon abhängt. Es gibt keine flachen Stellen, wo ein Flieger aufsetzen könnte, sollten die trügerischen Winde drehen, ihr Aufwind sie im Stich lassen oder ihre Hanggleiter beschädigt werden. Eine Notlandung auf einer der Felswände bedeutet fast immer den sicheren Tod. Die geringste Fehleinschätzung der Luftbewegung, der Auf- und Abwinde, der Strahlströmung... jeder Fehler bedeutet für einen Flieger den Tod. Darum leben sie allein, gehören einem Geheimkult an und verlangen ein Vermögen für ihre Dienste, wenn sie für den Dalai Lama mit Botschaften von der Hauptstadt Potala aufbrechen, während einer buddhistischen Feier Gebetsbanner fliegen, dringende Nachrichten von einem Händler an sein Büro übermitteln, um Konkurrenten zu schlagen, oder – so will es die Legende – den östlichen Gipfel des T’ai Shan zu besuchen, der jedes hiesige Jahr monatelang durch mehr als hundert Klicks Luft und tödliche Wolken vom restlichen T’ien Shan abgeschieden ist.
»Ich glaube nicht, dass wir diese Nachricht einem Flieger anvertrauen sollten«, sage ich.
A. Bettik nickt. »Ja. M. Endymion, aber die Paragleiter kann man hier auf dem Marktplatz kaufen. Am Stand der Fliegergilde. Wir könnten zwei kaufen und den kürzesten Rückweg nehmen. Sie sind sehr teuer, aber wir könnten ein paar der Packzygeißen verkaufen.«
Ich weiß nie, wann mein Androidenfreund einen Witz macht. Ich erinnere mich an das letzte Mal, als ich mich unter einem Parasegel befand, und widerstehe dem Impuls zu erschauern. »Waren Sie auf dieser Welt je mit dem Paragleiter unterwegs?«, frage ich.
»Nein, M. Endymion.«
»Auf einer anderen Welt?«
»Nein, M. Endymion.«
»Was meinen Sie, wie stehen unsere Chancen, wenn wir es versuchen würden?«, frage ich.
»Eins zu zehn«, sagt er, ohne eine Sekunde zu zögern.
»Und wie sind unsere Chancen auf den Kabeln und der Gleitbahn so spät am Tag?«, frage ich.
»Vor Einbruch der Dunkelheit etwa neun zu zehn«, sagt er. »Wenn wir es vor Sonnenuntergang nicht bis zur Gleitbahn schaffen, etwas weniger.«
»Nehmen wir Kabel und Gleitbahn«, sage ich.
Wir warten in der kurzen Schlange der Marktbesucher, die per Kabel aufbrechen, dann sind wir an der Reihe, auf die Absprungplattform zu gehen. Der Bambusvorsprung liegt rund zwanzig Meter unter dem tiefsten Marktplatzgerüst und erstreckt sich etwa fünf Meter weiter über den Abgrund als der Rest von Phari. Unter uns liegt nichts als Tausende Meter Leere und am Grund dieser Leere nur das allgegenwärtige Wolkenmeer, das gegen die Kuppen der aufragenden Felsmassive prallt wie eine weiße Brandung gegen Stützwerk aus Stein. Kilometer unter der Wolkendecke liegen, wie ich weiß, die giftigen Gase und die rauen Säuremeere, die die ganze Welt bedecken, abgesehen von den Bergen.
Der Kabelmeister winkt uns nach vorne, worauf A. Bettik und ich gemeinsam auf die Sprungplattform steigen. Von diesem Knotenpunkt verlaufen ein Dutzend oder mehr Kabel schräg in den Abgrund hinab und erzeugen ein schwarzes Spinnennetz, das am Rand des Gesichtsfelds verschwindet. Der nächste Kabelbahnhof liegt mehr als anderthalb Kilometer nördlich – auf einem kleinen Stoßzahn aus Felsgestein, der vor der weißen Pracht der Chomo Lori aufragt, der »Schneekönigin« –, aber wir brechen nach Osten auf, über die gewaltige Kluft zwischen den Graten, unser Ziel liegt mehr als zwanzig Kilometer entfernt, und das Kabel, das in diese Richtung führt, scheint im Nichts aufzuhören, wo es im Abendglühen der fernen Felswand verschwindet. Und unser
Weitere Kostenlose Bücher