Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
endgültiges Ziel liegt mehr als fünfunddreißig Klicks weiter entfernt im Nordosten. Zu Fuß würden wir rund sechs Stunden für die lange Reise am Gebirgskamm von Phari entlang nach Norden und auf dem System von Brücken und Laufstegen weiter nach Osten brauchen. Die Reise über Kabel und Gleitbahn erfordert knapp die Hälfte dieser Zeit, aber es ist spät am Tag, da ist die Gleitbahn besonders gefährlich. Ich betrachte die untergehende Sonne und frage mich erneut, ob es ein guter Plan ist.
»Fertig«, knurrt der Kabelmeister, ein kleiner brauner Mann in einer befleckten Flicken- Chuba . Er kaut Besilwurzel und wendet sich ab, um über den Rand zu spucken, als wir zur Angurtleine treten.
»Fertig«, sagen A. Bettik und ich wie aus einem Mund.
»Achtet auf euren Abstand«, knurrt der Kabelmeister und gibt mir ein Zeichen, als Erster zu springen.
Ich schüttle meine Reisehalter von meinem Körperharnisch los, streiche mit den Händen über die voll gehängte Zubehörschlinge, die wir Reck nennen, ertaste den doppelt aufgehängten Flaschenzug, raste ihn mit einem Karabinerhaken in den Haltering ein, führe einen Munter-Haken als Reibungsbremse zur Unterstützung der Flaschenzugbremse in einen zweiten Karabiner ein, nehme meinen besten D-Kompensierungskarabinerhaken und klinke damit die beiden Spurkränze des Flaschenzugs zusammen um das Kabel, danach ziehe ich die Sicherungsleine durch die beiden ersten Karabinerhaken, während ich eine kurze Prusikschlinge an das Seil binde, und zu guter Letzt klinke ich diese unter den Halteringen an meinem Brustharnisch ein. Das alles dauert keine Minute. Ich hebe beide Hände, ziehe die Regelknöpfe des D-Rings an den Flaschenzug und springe auf und ab, um die Verbindungen des Flaschenzugs und meine Halteklipps zu testen. Alles hält.
Der Kabelmeister beugt sich herüber und begutachtet die Aufhängung des Doppel-D-Rings und die Flaschenzugklammer mit Kennerblick. Er zieht den Flaschenzug hoch und einen Meter zurück und vergewissert sich, dass die nahezu reibungsfreien Lager einwandfrei in ihrem kompakten Gehäuse laufen. Schließlich legt er sein gesamtes Gewicht auf meine Schultern und den Harnisch, hängt an mir wie ein zweiter Rucksack und lässt mich dann los, um sicherzustellen, dass die Ringe und Bremsseile halten. Ich bin sicher, ihm ist völlig egal, ob ich in den Tod stürze, aber wenn der Flaschenzug irgendwo auf dem zwanzig Klicks langen geflochtenen Monofaserkabel hängen bleibt, das sich in der Unsichtbarkeit verliert, wird es dieser Kabelmeister sein, der, über einem kilometertiefen Abgrund an seinen étriers oder seinem Bergsteigersitz hängend, den Schlamassel entfernen muss, während wartende Pendler vor Wut schäumen. Die Ausrüstung scheint ihn zufrieden zu stellen.
»Los«, sagt er und gibt mir einen Schlag auf die Schulter.
Ich springe ins Leere und schiebe dabei den klobigen Rucksack höher auf den Rücken. Das Netz des Harnischs spannt sich, das Kabel hängt durch, die Lager des Flaschenzugs summen fast unhörbar, und ich rutsche immer schneller, als ich die Bremse mit beiden Daumen an den Knöpfen des DRings löse. Innerhalb von Sekunden sause ich an dem Kabel hinunter. Ich hebe die Beine und setze mich auf den Sitz des Harnischs zurück, wie es mir in den vergangenen drei Monaten in Fleisch und Blut übergegangen ist.
Die Gebirgskette K’un Lun, unser Ziel, leuchtet hell, während die Schatten des Sonnenuntergangs den Abgrund unter mir füllen und der Abendschatten hinter mir an der Felswand des Phari-Massivs hinabgleitet.
Ich verspüre eine geringfügige Änderung in der Spannung des Kabels und höre das Kabel summen, als A. Bettik hinter mir seine Talfahrt beginnt. Als ich mich umdrehe, kann ich sehen, wie er von der Plattform springt, die Beine in der vorgeschriebenen Haltung gerade von sich gestreckt, während sein Körper an den elastischen Haltegurten wippt. Ich kann gerade noch den Haltestrick erkennen, der das Lederband an seinem rechten Arm mit der Bremsleitung des Flaschenzugs verbindet. A. Bettik winkt, und ich winke zurück und drehe mich wieder in dem Harnisch, um mich auf das Kabel zu konzentrieren, das heulend an mir vorüberzischt, während ich immer weiter über die Schlucht hinausschieße. Manchmal landen Vögel auf den Kabeln, um sich auszuruhen. Manchmal kommt es zu unerwarteten Eisverkrustungen oder Schäden in dem Geflecht. Sehr selten begegnet man dem verwaisten Flaschenzug von jemandem, der einen Unfall hatte oder aus
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