Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
Solarzellenbatterie angetrieben – elegante Bestandteile der Kletterausrüstung. A. Bettik überprüft seine Befestigung und nickt. Ich aktiviere meine beiden Steiger mit den Daumen. Die Anzeigen leuchten grün. Ich fahre den rechten Steiger einen Meter hoch, klemme ihn fest, steige in die Schlinge der Étrier- Schlaufe , vergewissere mich, dass ich frei bin, rutsche mit dem linken Steiger ein Stück weiter hoch, klemme ihn fest, schwinge den linken Fuß zwei Schlaufen höher, und so weiter. Und so weiter, siebenhundert Meter hoch, während wir beide gelegentlich eine Pause machen, an unseren étriers hängen und über das Tal schauen, wo der Laufweg im Licht der Fackeln erstrahlt. Die Sonne ist untergegangen, der Himmel hat sofort Violett- und Purpurtöne angenommen, die hellsten Sterne sind bereits sichtbar. Ich schätze, dass uns noch zwanzig Minuten echter Dämmerung bleiben. Wir werden die Gleitbahn in der Dunkelheit passieren.
Ich erschauere, als der Wind um uns heult.
Die starren Seile hängen die letzten zweihundert Meter über vertikalem Eis. Wir haben beide aufklappbare Steigeisen in den Taschen unserer Vorratslasche, brauchen sie aber nicht im weiteren Verlauf des anstrengenden Rituals – hochfahren – festklammern – steigen – étriers herausziehen – einen Moment ausruhen – hochfahren – festklammern –
steigen – ziehen – ausruhen – hochfahren. Wir brauchen fast vierzig Minuten für die siebenhundert Meter. Als wir die Plattform des Eisgrats betreten, ist es ganz dunkel.
T’ien Shan hat fünf Monde: Vier sind eingefangene Asteroiden, aber in hinreichend tiefen Orbits, dass sie genügend Licht reflektieren, der fünfte fast so groß wie der Mond der Alten Erde, aber im rechten oberen Quadranten durch einen riesigen Meteoritenkrater zersplittert, dessen Risse sich wie ein leuchtendes Spinnennetz zu jedem sichtbaren Rand der Scheibe erstrecken. Dieser große Mond – das Orakel – geht im Nordosten auf, als A. Bettik und ich langsam auf dem schmalen Eisgesimse nach Norden gehen und uns dabei an straff gespannten Kabeln festhalten, damit uns die eisigen Winde, die jetzt von der Strahlströmung herabrauschen, nicht fortwehen.
Ich habe meine Thermokapuze aufgezogen und die Gesichtsmaske übergestreift, aber der eisige Wind brennt mir trotzdem in den Augen und an den winzigen Stellen entblößter Haut. Wir können nicht lange hier verweilen. Aber der Drang, stehen zu bleiben und mich umzusehen, ist stark, wie immer, wenn ich auf dem Kabelwegbahnhof des Gebirgszugs K’un Lun stehe und über das Mittlere Königreich und die Welt der Berge des Himmels schaue.
Ich verharre auf dem flachen, offenen Eisfeld der Gleitbahn, drehe mich in alle Richtungen und genieße die Aussicht. Im Süden und Westen leuchtet das Phari-Massiv im Licht des Orakels über der mondbeschienenen brodelnden Wolkendecke. Fackeln hoch auf dem Grat nördlich von Phari zeigen deutlich den Laufweg, und ich kann die beleuchteten Hängebrücken viel weiter nördlich sehen. Hinter dem Marktplatz von Phari erhellt ein Leuchten den Himmel, und ich bilde mir ein, dass dort das prachtvoll von Fackeln beleuchtete Potala liegt, die Winterresidenz Seiner Heiligkeit des Dalai Lama und die Heimat der architektonisch grandiosesten Steinbauten auf diesem Planeten. Nur wenige Klicks nördlich von hier, das weiß ich, wurde dem Pax gerade eine Enklave in Rhan Tso im Abendschatten des Schiwling – des »Phallus des Schiwa« – gewährt. Ich lächle unter meiner Thermalmaske, als ich mir vorstelle, wie die christlichen Missionare über diese heidnische Schamlosigkeit nachgrübeln.
Jenseits von Potala, Hunderte Klicks im Westen, liegt das zerklüftete Areal von Koko Nor mit seinen zahllosen hängenden Dörfern und gefährlichen Brücken. Folgt man dem gewaltigen Grat des Lobsang Gyatso, liegt tief im Süden das Land der Sekte Gelber Hut, dessen Ende an den abschließenden Gipfel des Nanda Devi angrenzt, wo angeblich die Hindu-Göttin der Freude wohnt. Südwestlich davon, so weit jenseits der Krümmung des Planeten gelegen, dass die Sonne dort immer noch scheint, liegt Muztagh Alta mit seinen Zehntausenden islamischen Bewohnern, die die Gräber von Ali und den anderen Heiligen des Islam hüten. Nördlich von Muztagh Alta führen die Klüfte in ein Gebiet, das ich noch nicht gesehen habe – nicht einmal während meines Anflugs aus dem Orbit –, wo sich in den Vorgebirgen des Mt. Zion und des Mt. Moriah die hohen Heimstätten der Ewigen
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