Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
aus einem der großen Pokale zu trinken. Kelche? Das ist Blasphemie. Es ist nicht richtig. Oder doch? Jeder nimmt nur einen Schluck, dann kehren sie zu ihren Plätzen auf den Tatamimatten zurück. Keiner wirkt besonders belebt oder erleuchtet. Keine Hörner aus Licht ragen jemandem aus der Stirn, wenn er von dem Wein getrunken hat. Niemand erhebt sich in die Luft oder spricht in Zungen. Jeder trinkt seinen Schluck und setzt sich wieder.
Ich stelle fest, dass ich abgewartet und versucht habe, Aeneas Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich habe so viele Fragen... Verspätet und mit dem Gefühl, ein Verräter an jemandem zu sein, dem ich blind vertrauen sollte, reihe ich mich ans Ende der kürzer gewordenen Schlange ein.
Aenea sieht mich. Sie hält kurz die Hand hoch, Handfläche mir zugewandt. Der Sinn ist klar – Nicht jetzt, Raul. Noch nicht. Ich zögere noch einen Moment unentschlossen und bin krank bei dem Gedanken, dass diese anderen – diese Fremden – einen intimen Bund mit meinem Liebling eingehen, der mir verwehrt bleibt. Dann setze ich mich mit klopfendem Herzen und brennendem Gesicht wieder auf meine Matte zurück.
Der Abend hat kein formelles Ende. Leute brechen in Zweier- und Dreiergruppen auf. Ein Paar – sie hat von dem Wein getrunken, er nicht – bricht gemeinsam Arm in Arm auf, als wäre nichts geschehen. Vielleicht ist nichts geschehen. Vielleicht ist das Ritual der Kommunion, das ich gerade miterlebt habe, nichts weiter als eine Metapher oder eine symbolische Handlung, Autosuggestion oder Selbsthypnose. Vielleicht werden alle, die sich genügend anstrengen, etwas namens Bindende Leere wahrzunehmen, ein inneres Erlebnis erfahren, das sie davon überzeugt, dass es passiert ist.
Vielleicht ist alles Quatsch.
Ich reibe mir die Stirn. Ich habe solche Kopfschmerzen. Ein Glück, dass ich den Wein nicht getrunken habe, denke ich. Wein löst manchmal Migräne bei mir aus. Ich kichere und fühle mich einen Moment krank und leer, zurückgewiesen.
Rachel sagt: »Vergesst nicht, morgen Mittag wird der letzte Stein des Laufwegs angebracht. Auf der oberen Meditationsplattform findet ein Fest statt! Bringt eure eigenen Getränke mit.«
Damit ist der Abend zu Ende. Ich gehe mit einer Mischung aus Hochgefühl, Vorfreude, Bedauern, Verlegenheit, Aufregung und mit pochenden Kopfschmerzen zu unserer gemeinsamen Schlafstatt hinauf. Ich gestehe mir ein, dass ich nicht die Hälfte von Aeneas Erklärungen verstanden habe, entferne mich aber mit einem vagen Gefühl der Enttäuschung und des Unangemessenen... ich bin zum Beispiel sicher, dass das letzte Abendmahl von Jesus Christus nicht mit einer Einladung zu einer Arbeitsabschlussfeier auf der oberen Plattform zu Ende gegangen ist.
Ich kichere und verschlucke ein Lachen. Das letzte Abendmahl. Das hat einen schrecklichen Klang. Mein Herz fängt wieder an zu klopfen, meine Kopfschmerzen pochen noch schlimmer. Kaum die richtige Verfassung, das Schlafzimmer seiner Liebsten zu betreten.
Die kalte Luft auf dem Laufweg der oberen Plattform klärt meinen Kopf ein wenig. Das Orakel ist ein schmaler Streifen über turmhohen Kumuluswolken im Osten. Die Sterne sehen heute Nacht kalt aus.
Ich will gerade unser gemeinsames Zimmer betreten und die Laterne anzünden, als plötzlich der Himmel explodiert.
21
Sie kamen alle von den unteren Ebenen herauf – alle, die im Tempel, der in der Luft hängt, geblieben waren, nachdem der größte Teil der Arbeit getan war – Aenea und A. Bettik, Rachel und Theo, George und Jigme, Kuku und Kay, Chim Din und Gyalo Thondup, Lhomo und Labsang, Kim Buyong-Soon und Viki Groselj, Kenshiro und Haruyuki, Meister Abt Kempo Ngha Wang Tashi und sein Meister, der junge Dalai Lama, Voytek Majer und Janusz Kurtyka, der mürrische Rimsi Kyipup und der grinsende Changchi Kenchung, die Dorje Phamo, die Donnerkeil-Sau, und Carl Linga William Eiheji. Aenea kam an meine Seite und legte ihre Hand in meine, während wir ehrfürchtig schweigend zum Himmel schauten.
Mich überraschte, dass wir von dem Lichterspektakel, das da oben stattfand, wo vor einem Augenblick noch die Sterne gewesen waren, nicht blind geworden waren: gewaltige Blüten weißen Leuchtens, schwefelgelbes Stroboskoplicht, gleißende rote Streifen – weit heller als ein Komet oder Meteorschweif – mit einem Gitternetz blauer, grüner, weißer und gelber Blitze – jeder so klar und gerade wie Kratzer von Diamanten auf Glas, dann plötzliche orangefarbene Eruptionen, die wie stumme
Weitere Kostenlose Bücher