Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
nennen. Hier befehlen sie uns, von den Lastwagen abzusteigen, und verlangen, dass wir uns im Wald erleichtern. Ich kann es nicht... da die Wachen und die anderen Männer zusehen, tue aber so, als hätte ich uriniert, und knöpfe mir die Hose wieder zu.
Sie treiben uns wieder auf die großen Lastwagen und fahren uns zu einem alten Schloss. Hier lassen sie uns wieder aussteigen, und wir werden durch einen mit Kleidungsstücken und Schuhen übersäten Innenhof in einen Keller getrieben. An der Kellerwand steht auf Jiddisch: »Keiner kommt hier lebend raus.« Inzwischen sind Hunderte von uns im Keller, alle Männer, alle Polen, die meisten aus umliegenden Dörfern wie Grabow und Kolo, aber viele auch aus Lodz. Es riecht nach Feuchtigkeit und Fäulnis und kaltem Stein und Mehltau.
Nach mehreren Stunden, als das Licht fahl wird, verlassen wir den Keller lebend. Weitere Lastwagen sind eingetroffen, größere Lastwagen mit doppelten Türen. Diese größeren Lastwagen sind grün. Keine Bilder sind auf die Seiten gemalt. Die Wachen machen die Türen auf, und ich kann sehen, dass die meisten dieser größeren Lastwagen fast voll sind, jeder fasst siebzig bis achtzig Mann. Ich kenne keinen der Männer darin.
Die Deutschen stoßen und schlagen uns, um uns in die größeren Lastwagen zu drängen. Inzwischen höre ich viele der Männer weinen, daher führe ich sie im Gebet, als wir in die übel riechenden Lastwagen verfrachtet werden – Shema Israel, beten wir. Wir beten noch, als die Lastwagentüren zugeschlagen werden.
Draußen schreien die Deutschen den polnischen Fahrer und seine polnischen Helfer an. Ich höre einen der Helfer auf polnisch »Gas!« rufen, dann ertönt das Geräusch eines Schlauchs oder Rohrs, der irgendwo unter unserem Lastwagen angekoppelt wird. Der Motor wird angelassen.
Einige der Umstehenden stimmen in mein Gebet ein, aber die meisten Männer fangen an zu schreien. Der Lastwagen setzt sich sehr langsam in Bewegung. Ich weiß, wir fahren auf der schmalen, asphaltierten Straße, die die Deutschen bei Chelmno im Wald gebaut haben. Das ganze Dorf hat darüber gestaunt, weil die Straße nirgendwo hinführt... sie hört mitten im Wald auf, wo die Straße breit genug ist, dass die Lastwagen wenden können. Aber sonst ist da nichts, außer dem Wald und den Öfen, die die Deutschen bauen, die Gruben, die sie ausheben ließen. Die Juden im Lager, die an der Straße gebaut und mitgeholfen haben, die Gruben auszuheben und die Öfen im Wald zu bauen, haben uns das gesagt. Wir hatten ihnen nicht geglaubt, als sie es uns gesagt haben, und dann waren sie fort...
abtransportiert.
Die Luft wird dicker. Die Schreie werden lauter. Ich habe Kopfschmerzen. Das Atmen fällt schwer. Mein Herz pocht heftig. Ich halte die Hände eines jungen Mannes – eines Jungen – links von mir und eines alten Mannes rechts von mir. Beide beten mit mir.
Irgendwo in unserem Lastwagen singt jemand über die Schreie hinweg, singt in Jiddisch, singt in einem Bariton, der für die Oper ausgebildet wurde:
»Mein Gott, mein Gott,
warum hast Du uns verlassen?
Wir wurden schon früher ins Feuer gestoßen,
aber wir haben Dein heiliges Gesetz stets geachtet.«
Aenea! Mein Gott! Was?
Psst. Alles in Ordnung, Liebster. Ich bin hier.
Ich verstehe nicht... was?
Mein Name ist Kaltryn Cateyen Endymion, und ich bin die Frau von Trorbe Endymion, der vor fünf lokalen Monaten bei einem Jagdunfall ums Leben kam. Außerdem bin ich die Mutter des Kindes namens Raul, das jetzt drei Hyperionjahre alt ist und, von Tanten beaufsichtigt, im Kreis der Wohnmobile beim Lagerfeuer spielt.
Ich erklimme den grasbewachsenen Hügel über dem Tal, wo die Wohnmobile für die Nacht zu einem Kreis zusammengestellt wurden. Am Bach in dem Tal stehen einige Triaspen, aber sonst gibt es in den Mooren keine landschaftlichen Merkzeichen, abgesehen von kurzem Gras, Heidekraut, Riedgras, Felsen, Felsbrocken und Flechten. Und Schafe. Hunderte Schafe der Karawane kann man auf den Hügeln im Osten sehen und hören, wo sie grasen und sich von den Schäferhunden dirigieren lassen.
Grandam näht auf einem Felsen mit grandioser Aussicht über das Tal nach Westen Kleidungsstücke. Über dem westlichen Horizont hängt ein Dunstschleier, der offenes Wasser bedeutet, das Meer, aber die unmittelbare Umgebung wird von den Mooren begrenzt, dem dunklen, lapislazuliblauen Abendhimmel, den Meteorspuren, die den Himmel lautlos überziehen, und dem Rauschen des Windes im Gras.
Ich setze
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