Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
sie in etwas, das mein Vater einen Raum über der Luft nennt, von Osten nach Westen zogen. Gestern hat das Dorfradio Befehle des Imam in Al-Ghazali gesendet, der über Telefon von Omar gehört hatte, dass sich alle auf den Hochplateaus und in den Oasen der Brennenden Ebene vor ihren Zelten versammeln und warten sollen. Vater ist zu einem Treffen der Männer in der braunen Moschee in unserem Dorf gegangen.
Der Rest der Familie wartet vor dem Zelt. Die dreißig anderen Familien warten ebenfalls. Farid ud-Din Attar, unser Dorfdichter, schreitet in unserer Mitte dahin und versucht, uns mit Versen zu beruhigen, aber selbst die Erwachsenen sind furchtsam.
Mein Vater ist zurückgekehrt. Er erzählt meiner Mutter, der Mullah hat beschlossen, wir könnten nicht einfach darauf warten, dass die Ungläubigen uns töten. Es ist nicht gelungen, die Moscheen in Al-Ghazali oder Omar über Funk zu erreichen. Vater glaubt, dass das Funkgerät wieder kaputt ist, aber der Mullah denkt, dass die Ungläubigen jeden westlich der Brennenden Ebene getötet haben.
Wir hören Schüsse vor den anderen Zelten. Mutter und meine älteste Schwester wollen weglaufen, aber Vater befiehlt ihnen zu bleiben. Schreie ertönen. Ich schaue zum Himmel und warte, dass die Pax-Schiffe der Ungläubigen zurückkehren. Als ich den Blick wieder senke, kommen die Vollstrecker des Mullahs um die Ecke und stecken neue Magazine auf ihre Gewehre. Ihre Gesichter sind grimmig.
Vater befiehlt, dass wir uns alle an den Händen halten. »Gott ist groß«, sagt er, und wir antworten: »Gott ist groß.« Selbst ich weiß, dass »Islam«
die Unterwerfung unter den barmherzigen Willen Allahs bedeutet.
In letzter Sekunde sehe ich die Lichtpunkte am Himmel – die Schiffe des Pax, die so hoch über uns am Zenit von Osten nach Westen schweben.
»Gott ist groß!«, ruft Vater.
Ich höre die Schüsse.
»Aenea, ich weiß nicht, was das alles bedeutet.«
»Raul, sie bedeuten nichts, sie sind.«
»Sie sind echt?«
»So echt, wie Erinnerungen sein können, mein Liebster.«
»Aber wie? Ich kann die Stimmen hören...so viele Stimmen... sobald ich...
eine mit dem Geist streife... sie sind stärker als meine eigenen Erinnerungen, klarer.«
»Dennoch sind sie Erinnerungen, mein Liebster.«
»Der Toten...«
»So ist es, ja.«
»Ihre Sprache lernen...«
»Wir müssen ihre Sprache in vieler Hinsicht lernen, Raul. Ihre ursprünglichen Sprachen... Englisch, Jiddisch, Polnisch, Farsi, Tamil, Griechisch, Mandarin. .. aber auch ihre Herzen. Die Seele ihrer Erinnerungen.«
»Sind es Geister, die da sprechen, Aenea?«
»Es sind keine Geister, mein Liebster. Der Tod ist endgültig. Die Seele ist die unbeschreibliche Verbindung von Erinnerungen und Persönlichkeit, die wir durch das Leben tragen... wenn das Leben zu Ende ist, stirbt die Seele ebenfalls. Abgesehen von dem, was wir in den Erinnerungen derer hinterlassen, die uns geliebt haben.«
»Und diese Erinnerungen...«
»Hallen in der Bindenden Leere.«
»Wie? Die Milliarden Leben...«
»Und Tausende Rassen und Jahrmilliarden, mein Liebster. Einige der Erinnerungen deiner Mutter sind da... und meiner Mutter... aber auch die Lebenseindrücke von Wesen, die in Raum und Zeit schrecklich weit von uns entfernt sind.« »Kann ich die ebenfalls berühren, Aenea?«
»Vielleicht. Mit der Zeit und mit Übung. Ich habe Jahre gebraucht, sie zu verstehen. Schon die Sinneseindrücke von Lebensformen, die sich so unterschiedlich entwickelt haben, sind schwer zu verstehen, von ihren Gedanken, Erinnerungen und Emotionen ganz zu schweigen.«
»Aber du hast es geschafft?«
»Ich habe es versucht.«
»Fremde Lebensformen wie die Seneschai Aluit oder die Akerataeli?«
»Noch viel fremdartiger, Raul. Die Seneschai haben Generationen unbemerkt in der Nähe der Siedler auf Hebron gelebt. Und sie sind Empathen
– Emotionen waren ihre primäre Sprache. Die Akerataeli sind ganz anders als wir, aber nicht so anders als die Wesenheiten des Core, die mein Vater besucht hat.«
»Ich habe Kopfschmerzen, Spatz. Kannst du mir helfen, diesen Stimmen und Bildern Einhalt zu gebieten?«
»Ich kann dir helfen, sie leiser zu machen, mein Liebster. Ganz verschwinden werden sie nie wieder, so lange wir leben. Das ist Segen und Fluch der Kommunion mit meinem Blut. Aber bevor ich dir zeige, wie man sie leiser macht, solltest du noch ein paar Minuten zuhören. Sonnenaufgang und die Laubwende sind fast da.«
Mein Name war Lenar Hoyt, Priester, aber jetzt bin
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