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Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung

Titel: Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Grandam.
    Ich muss lachen. »Du hast mir Dutzende Gedichte von Ryokan beigebracht, Grandam.«
    »Das erste«, sagt die alte Frau.
    Ich brauche einen Moment, bis ich mich daran erinnere. Ich sage das Gedicht auf und vermeide den Singsangton in der Stimme, wie Grandam es mir beigebracht hat, als ich ein wenig älter war, als Raul jetzt ist.

    »Wie glücklich bin ich,
    Gehe ich Hand in Hand
    Mit den Kindern,
    Um junges Grün zu pflücken
    Auf den Feldern des Frühlings!«

    Grandam hat die Augen geschlossen. Ich kann sehen, wie dünn das Pergament ihrer Lider ist. »Dieses Gedicht hat dir früher gefallen, Kaltryn.«
    »Das tut es noch.«
    »Und heißt es darin irgendwo, dass es notwendig ist, das Grün nächste Woche oder nächstes Jahr oder in zehn Jahren zu pflücken, um jetzt glücklich zu sein?«
    Ich lächle. »Du hast gut reden, alte Frau«, sage ich mit leiser Stimme voller Zuneigung, um die Respektlosigkeit der Worte zu mildern. »Du pflückst das Grün seit vierundsiebzig Frühlingen und hast vor, es noch weitere siebzig zu tun.«
    »Ich glaube, so viele habe ich nicht mehr.« Sie drückt meine Hand ein letztes Mal und lässt sie los. »Aber das Wichtige ist, jetzt mit den Kindern loszugehen, im Frühlingssonnenschein dieses Abends, und rasch das Grün für das heutige Abendessen zu pflücken. Ich koche dein Leibgericht.«
    Darauf klatsche ich tatsächlich in die Hände. »Die Nordwindsuppe? Aber der Lauch ist noch nicht reif.«
    »In den Südmarschen schon, und dorthin habe ich Lee und seinen Jungen geschickt, um zu suchen. Und sie haben einen ganzen Topf voll. Geh jetzt, Frühlingskräuter für die Mischung sammeln. Nimm dein Kind mit, und sei vor Einbruch der Wahren Dunkelheit wieder hier.«
    »Ich liebe dich, Grandam.«
    »Ich weiß. Und Raul liebt dich, Kleines. Und ich werde dafür sorgen, dass der Kreis nicht unterbrochen wird. Lauf jetzt.«
    Ich erwache fallend. Ich war wach. Die Blätter des Sternenbaums schirmen die Kapseln die Nacht über ab, die Sterne auf der außerhalb des Systems gelegenen Seite funkeln. Die Stimmen klingen nicht ab. Die Bilder verblassen nicht. Dies ist nicht wie ein Traum. Dies ist ein Mahlstrom von Bildern und Stimmen... Tausende Stimmen im Chor, die sich alle Gehör verschaffen wollen. Ich hatte bis zu diesem Augenblick nicht mehr an die Stimme meiner Mutter gedacht. Als Rabbi Schulmann im Polnisch der alten Erde geschrien und auf Jiddisch gebetet hatte, hatte ich nicht nur seine Stimme verstanden, sondern seine Gedanken.
    Ich verliere den Verstand.
    »Nein, mein Liebling, du verlierst nicht den Verstand«, flüstert Aenea.
    Sie schwebt mit mir an der warmen Wand der Kapsel, hält mich fest. Das Chronometer an meinem Komlog sagt mir, dass die Schlafperiode in dieser Region der Biosphäre fast vorbei ist, dass sich die Blätter noch in dieser Stunde drehen und das Sonnenlicht einströmen lassen werden.
    Die Stimmen flüstern und murmeln und streiten und schluchzen. Die Bilder flackern über die Rückseite meines Gehirns wie Farben nach einem heftigen Schlag auf den Kopf. Ich merke, dass ich mich vollkommen verkrampfe, die Fäuste balle, die Zähne zusammenbeiße und dass die Adern an meinem Hals vorstehen wie in einem starken Wind oder unter schlimmen Schmerzen.
    »Nein, nein«, sagt Aenea und streicht mit ihren sanften Händen über meine Wangen und Schläfen. Schweiß umschwebt mich wie eine saure Aura. »Nein, Raul, entspann dich. Du bist so empfänglich dafür, mein Liebling, wie ich vermutet hatte. Entspann dich, und lass die Stimmen abklingen. Du kannst es kontrollieren, Liebling. Du kannst ihnen zuhören, wenn du möchtest, und sie zum Schweigen bringen, wenn es sein muss.«
    »Aber sie gehen nie weg?«, frage ich.
    »Nicht weit weg«, flüstert Aenea. Ouster-Engel schweben im Sonnenlicht jenseits der Barriere aus Laub der Sonne entgegen.
    »Und du hörst dir das an, seit du ein Säugling warst?«, sage ich.
    »Seit vor meiner Geburt«, antwortet mein Herzblatt.
    »Mein Gott, mein Gott«, sage ich und drücke die Fäuste auf die Augen.
    »Mein Gott.«
    Mein Name ist Amnye Machen A1 Ata, und ich bin elf Standardjahre alt, als der Pax in mein Dorf auf Qom-Riyadh eindringt. Unser Dorf ist weit von den Städten entfernt, weit von den wenigen Straßen und Luftverkehrswegen, sogar fern von den Karawanenstrecken, die sich verschlungen durch die Felswüste und die Brennenden Ebenen ziehen.
    Zwei Tage lang hat man die Schiffe des Pax wie Glut am Abendhimmel brennen sehen, als

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