Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
vielleicht auch zutrifft.
Aber es war auch meine Rettung. Anfangs rettete es mich vor dem Wahnsinn und der Selbstzerstörung durch unkontrollierbaren Kummer und Reue. Dann rettete es meine Erinnerungen an Aenea – holte sie aus dem Morast des Grauens über ihren schrecklichen Tod auf den festeren Boden unserer gemeinsamen Tage, ihrer Lebensfreude, ihrer Mission, unserer Reisen und ihrer komplexen, aber schrecklich gradlinigen Botschaft an mich und die gesamte Menschheit. Schließlich rettete es mir einfach das Leben.
Kurz nachdem ich die Niederschrift begonnen hatte, stellte ich fest, dass ich an Gedanken und Taten jedes Beteiligten an unserer langen Odyssee und dem verlorenen Kampf teilhaben konnte. Ich wusste, dies war eine Funktion dessen, was Aenea mir durch Diskussionen und die Kommunion beigebracht hatte – des Erlernens der Sprache der Toten und der Lebenden.
In meinen Träumen und Wachträumen begegnete ich nach wie vor den Toten: Meine Mutter sprach häufig zu mir, und ich kostete Qual und Weisheit zahlloser anderer, die vor langer Zeit gelebt hatten und gestorben waren, aber nicht diesen verlorenen Seelen galt jetzt meine Besessenheit – sie galt denen mit Parallelen zu meinen eigenen Erfahrungen in all den Jahren, die ich Aenea gekannt hatte.
In der ganzen Zeit, die ich in der Schrödinger-Katzenkiste auf den Tod wartete, glaubte ich nicht einmal, dass ich die gegenwärtigen Gedanken der Lebenden jenseits meines Gefängnisses hören könnte – ich ging davon aus, dass die Fusionsenergiehülle des Orbitaleis das irgendwie verhinderte –, aber ich lernte bald, das Tohuwabohu der zahllosen älteren Stimmen auszublenden, die in der Bindenden Leere hallten, und mich auf die Erinnerungen derer zu konzentrieren – der Toten wie der vermutlich noch Lebenden –, die ein Teil von Aeneas Geschichte gewesen waren. So drang ich zumindest in einige der Gedanken und Motive von Menschen ein, die meiner eigenen Denkweise so fremd waren, als ob es sich um außerirdische Wesen handelte: Die Kardinäle Simon Augustino Lourdusamy und John Domenico Mustafa, Lenar Hoyt in seinen Inkarnationen als Papst Julius und Papst Urban XVI., Händler des Merkantilus wie Kenzo Isozaki und Anna Pelli Cognani, Priester und Krieger wie Pater de Soya, Sergeant Gregorius, Captain Marget Wu und Erster Offizier Hoag Liebler. Manche der Figuren meiner Erzählung sind in der Bindenden Leere überwiegend als Narben, Löcher, Leerstellen präsent – die Nemes-Kreaturen sind solche Vakuen, ebenso Ratgeber Albedo und die anderen Wesenheiten des Core –, aber es gelang mir, einige Bewegungen und Aktionen dieser Wesen einfach anhand der Bewegung besagter Leerstellen durch die Matrix vernunftbegabter Emotionen nachzuvollziehen, welche die Leere darstellt, etwa so, wie man den Umriss eines Unsichtbaren im strömenden Regen erkennen kann. Auf diese Weise konnte ich, während ich außerdem dem leisen Murmeln toter Menschen zuhörte, die Ermordung Unschuldiger durch Rhadamanth Nemes auf Sol Draconi Septem rekonstruieren, oder die Moritaten von Scylla, Gyges, Briareus und Nemes auf Vitus-Gray-Balianus B. So widerwärtig und desorientierend diese Abstiege in moralisches Vakuum und geistige Albträume auch sein mochten, sie fanden einen Ausgleich, wenn ich noch einmal die Güte von Freunden wie Dem Loa, Dem Ria, Pater Glaucus, Het Masteen, A. Bettik und all den anderen erfahren konnte. Viele dieser an der Geschichte Beteiligten suchte ich ausschließlich über meine eigenen Erinnerungen auf – wunderbare Menschen wie Lhomo Dondrub, den ich zuletzt mit Flügeln reinsten Lichts in seinen edlen, aber hoffnungslosen Kampf gegen die Kriegsschiffe des Pax hatte ziehen sehen; und Rachel, die das zweite von mehreren vorherbestimmten abenteuerlichen Leben lebte; und die königliche Dorje Phamo und den weisen jungen Dalai Lama. Auf diese Weise nutzte ich die Bindende Leere, um meine eigene Stimme zu hören, um Erinnerungen über die Fähigkeit und Klarheit gewöhnlicher Erinnerungen hinaus zu klären, und in diesem Sinne sah ich mich oft als Nebenrolle in meiner eigenen Geschichte, ein nicht allzu intelligenter Mitläufer, der normalerweise mehr reagierte als führte und nicht selten verabsäumte, Fragen zu stellen, wenn er sie stellen sollte, oder Antworten allzu unzureichend akzeptierte. Aber ich sah auch den schwerfälligen Raul Endymion der Geschichte als einen Mann, der die Liebe zu einer Person entdeckte, auf die er sein ganzes Leben lang gewartet
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