Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
erschauern.
Endlich hatte er die Eingangshalle erreicht. Mit angstvoll aufgerissenen Augen versuchte er, die schemenhaften Umrisse zu erkennen. Da war der Tisch, an dem die Bücher zur Ausleihe und zur Rückgabe eingetragen wurden, dann die Uhr und daneben der hohe Karteikarten-Katalog und ein Rollwagen für die zurückgegebenen Bücher.
Er blieb stehen. Unter dem Rollwagen lag ein Buch. Es musste aus einem Regal gefallen sein.
Blake schlich hin, wurde aber enttäuscht: Da lag nur ein dämliches, langweiliges Chemie-Lehrbuch. Nicht Endymion Spring.
Er bückte sich, um es wieder auf den Rollwagen zu legen ... und erschrak fast zu Tode. Zwei metallisch grüne Kugeln funkelten hinter der Ecke des Rollwagens hervor. Entsetzt wich Blake zurück.
Doch dann, mit plötzlicher Erleichterung, erkannte er, was es war: Mephistopheles!
»O nein, nicht schon wieder du!«, rief er. »Du darfst nicht hier drin sein! Wie bist du überhaupt...« - er drehte sich zum Eingang um - ».. .hier reingekommen?«, murmelte er nachdenklich.
Die Tür war geschlossen. Da war niemand.
Mit schmatzenden, schmeichelnden Lauten, tz, tz, tz, schob er sich näher an den Kater heran und versuchte, ihn aus seinem Versteck zu locken. Aber mühelos entzog sich Mephistopheles Blakes ausgestreckten Händen, sprang die Treppe hinauf und stieß ein empörtes Zischen aus, das sich anhörte wie zerreißender Stoff.
»Na toll«, rief Blake aus. Paula Richards würde stinksauer sein, wenn er den Kater über Nacht in der Bibliothek ließe.
Grummelnd machte er sich an die Verfolgung und lief die breiten Marmorstufen hinauf.
Die Galerie wurde durch etliche Reihen frei stehender, jahrhundertealter Bücherschränke in tiefe dunkle Gänge unterteilt. Im düsteren Licht glichen die Schränke einer Prozession von Mönchen -vornübergebeugt, mit runden Schultern.
Blake schlich auf der Jagd nach Mephistopheles über die knarrenden Bodendielen des Mittelgangs. Sein Lichtstrahl huschte über die Regale, beleuchtete Hunderte bleicher, geisterhafter Bücher. Manche waren mit Ketten an Tische gefesselt, andere lagen aufgeschlagen gegen Schaumstoffkissen gelehnt — wie Nachtfalter mit ausgebreiteten Flügeln. Kordeln, die wie Halsketten aussahen, beschwerten die Seiten.
Blake leuchtete in Ecken und Winkel und spähte unter Bänke, zwischen deren Beinen er wirre Schatten entdeckte.
»Komm raus, du blöder Kater!«, schnaubte er wütend. »Ich hab nicht den ganzen Abend Zeit!« Er spürte, wie ihm die Zeit davonlief. Jeden Moment konnte die Mutter sein Verschwinden bemerken, und dann würde es Ärger geben.
Da war er!
Mephistopheles saß geduckt hinter einer Holztruhe auf der gegenüberliegenden Seite der Galerie. Über ihm hing das gigantische Porträt eines Mannes mit tadelndem Blick: Horatio Middleton (1503-1589). Sein beringter Finger war fest um den Rücken eines abgenutzten, in Leder gebundenen Buches geschlossen.
»Okay, komm raus jetzt!«, lockte Blake und streckte die Hand hinter die Truhe, um nach dem Kater zu greifen. Weil er dabei mit der Schulter an ein Regal stieß, wäre beinahe ein Buch heruntergefallen.
Zuerst rührte sich Mephistopheles nicht vom Fleck; doch dann, getäuscht von Blakes falschen Schmeicheleien, kam er näher, und Blake konnte ihn am Schlafittchen packen. Empört heulte die Katze auf.
Blake hatte schwer zu tun, sowohl die Taschenlampe als auch den strampelnden, sich widersetzenden Kater festzuhalten. Langsam ging er zur Treppe. »Hör mit dem Gejaule auf«, schimpfte er. »Wärst du nicht...«
Ohne Ankündigung bohrte Mephistopheles seine Krallen in Blakes Schulter, schnellte sich in die Luft und war frei. Blake schrie auf vor Schmerz. Er musste hilflos zusehen, wie der Kater geschmeidig neben der Glasvitrine auf den Füßen landete, die Stufen hinuntersprang und... durch den offenen Eingang in der Nacht verschwand.
Blake blieb fast das Herz stehen. Er spürte die kalte Luft hereinströmen, spürte die Kälte an seinen Füßen und bis in seine Knochen dringen. Die Tür stand sperrangelweit offen!
»Wer ist da?«, rief er angstvoll und hielt seine Taschenlampe in Richtung Eingang. Der Schein erhellte nur einen kleinen Teil der Halle.
»Wer ist da?«, versuchte er es noch einmal. Am anderen Ende des Ganges glaubte er einen schwachen Schimmer zu erkennen.
Er ging langsam darauf zu, und beinahe wäre ihm vor Schreck die Taschenlampe aus der Hand gefallen: Am Ende des Ganges, genau dort, wo er vorher gestanden hatte, lagen
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