Engel aus Eis
das? Und wer hat es getan?«
»Ihr Mann behauptet, er sei es gewesen, doch ich bezweifle …«
Frans zuckte zusammen. »Herman? Aber warum? Ich kann nicht glauben, dass …«
»Kannten Sie Herman?«, fragte Martin und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie wichtig die Antwort auf diese Frage war.
»Nein, eigentlich nicht.« Frans schüttelte den Kopf. »Ich bin ihm nur ein einziges Mal begegnet. Er rief mich im Juni an und sagte, Britta sei krank und habe den Wunsch geäußert, mich zu sehen.«
»Fanden Sie das nicht seltsam? Wenn man bedenkt, dass Sie seit sechzig Jahren keinen Kontakt hatten?« Martins Stimme verbarg nicht, wie skeptisch er Frans’ Angaben gegenüberstand.
»Natürlich habe ich mich ein bisschen gewundert, aber Herman sagte, sie leide an Alzheimer, und bei dieser Krankheit ist es offenbar nicht ganz ungewöhnlich, dass man im Geiste zu den Zeiten und Menschen zurückkehrt, die einem etwas bedeutet haben. Wir und der Rest der Clique waren schließlich während unserer gesamten Jugend befreundet.«
»Und die Clique bestand aus …«
»Mir, Britta, Erik und Elsy Moström.«
»Zwei davon sind mittlerweile tot, ermordet im Laufe von zwei Monaten«, keuchte Martin, der mit Frans kaum Schritt halten konnte. »Halten Sie das nicht für ein merkwürdiges Zusammentreffen?«
Frans stierte auf den Horizont. »In meinem Alter hat man genug merkwürdige Zusammentreffen erlebt, um zu wissen, dass sie gar nicht so selten vorkommen. Außerdem sagten Sie, Brittas Mann habe zugegeben, dass er sie umgebracht hat. Glauben Sie, er hat auch Erik ermordet?« Frans sah Martin in die Augen.
»Momentan glauben wir gar nichts, aber man kommt zweifelsohne ins Grübeln, wenn aus einer vierköpfigen Clique zwei Menschen innerhalb von so kurzer Zeit einem Mord zum Opfer fallen.«
»MerkwürdigeZusammentreffen sind, wie gesagt, gar nicht so verwunderlich, sondern reiner Zufall – oder Schicksal.«
»Für einen Mann, der große Teile seines Lebens in Haftanstalten verbracht hat, hört sich das ziemlich philosophisch an. War das etwa auch Zufall oder Schicksal?« Martins Ton war etwas zu scharf. Er erinnerte sich daran, dass er seine persönlichen Gefühle aus dem Spiel lassen musste, doch da er in der vergangenen Woche erlebt hatte, welche Auswirkungen das, wofür Frans Ringholm stand, auf Paula hatte, konnte er seine Abscheu nur schwer verbergen.
»Zufall und Schicksal haben damit nichts zu tun. Ich war erwachsen und in der Lage, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, als ich diesen Weg einschlug. Natürlich kann ich im Nachhinein sagen, dass ich dieses und jenes nicht hätte tun sollen … und gut daran getan hätte, einen anderen Weg einzuschlagen.« Frans blieb stehen und sah Martin an. »Aber während wir leben, haben wir diese Möglichkeit nicht. Wir können das Ergebnis unseres Tuns nicht erkennen. Ich habe bestimmte Entscheidungen gefällt, mein Leben gelebt und den Preis dafür gezahlt.«
»Und Ihre Ansichten? Haben Sie die auch frei gewählt?« Martin stellte fest, dass er aufrichtiges Interesse an der Antwort hatte. Er konnte Menschen nicht verstehen, die andere Menschen verurteilten. Er konnte nicht nachvollziehen, wie sie diese Haltung vor sich selbst rechtfertigten. Einerseits empfand er einen starken Widerwillen gegen sie, andererseits wollte er wissen, wie sie tickten. So wie ein Kind, das aus Neugier ein Radio aufschraubt.
Frans schwieg lange. Er schien Martins Frage wirklich ernst zu nehmen.
»Zu meinen Ansichten stehe ich. Ich sehe, dass mit unserer Gesellschaft etwas nicht stimmt, und meine politische Einstellung basiert auf meiner Interpretation der Dinge, die schieflaufen. Ich halte es für meine Pflicht, meinen Teil zur Korrektur dieser Fehler beizutragen.«
»Aber bestimmten Minderheiten die Schuld geben …« Martin schüttelte den Kopf. Solche Gedankengänge konnte er einfach nicht nachvollziehen.
»Sie machen den Fehler, die Leute als Individuen zu betrachten«, erwiderte Frans trocken. »Der Mensch ist nie ein Individuum gewesen. Wir gehören einer Gruppe an. Einem Kollektiv. Und diese Gruppen haben sich zu allen Zeiten bekämpft und um den Platz in der Hierarchie gestritten, der Weltordnung. Man kann sich wünschen, es wäre anders, aber es ist so, und selbst wenn ich meine Stellung in der Welt nicht mit Gewalt verteidige, so bin ich doch ein Überlebenskünstler und werde am Ende als Sieger dastehen. Die Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben.«
Nachdem er
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