Engel aus Eis
seine Freunde, die träge und teilnahmslos neben ihm auf der Bank saßen. Wusste er überhaupt, wie ihr Stammbaum aussah? Wer konnte wissen, was die Huren in ihren Sippen getrieben hatten. Vielleicht floss auch in ihren Adern unreines Blut. Per schauderte.
Nicke sah ihn fragend an. »Was ist eigentlich mit dir los? Hast du was Falsches gegessen?«
Per rümpfte die Nase. »Gar nichts.« Aber der Gedanke und der Ekel ließen ihn nicht mehr los. Er trat seine Zigarette aus.
»Gehen wir in die Cafeteria. Man kriegt schlechte Laune, wenn man hier so abhängt.«
Er deutete mit dem Kopf auf das Schulgebäude und ging mit schnellen Schritten voran, ohne sich nach den anderen umzusehen. Er wusste sowieso, dass sie ihm folgten.
Einen Augenblick lang dachte er an den ermordeten Mann. Dann zuckte er mit den Achseln. Der war unwichtig.
Fjällbacka 1943
M esser und Gabeln klirrten auf den Porzellantellern. Alle drei versuchten, den leeren Stuhl am Esstisch zu ignorieren, aber keinem von ihnen wollte es so recht gelingen.
»Dass er aber auch so schnell wieder los musste.« Gertrud hielt Erik mit fragender Miene die Schüssel hin, und er lud sich noch eine Kartoffel auf seinen reichlich gefüllten Teller. Es war am einfachsten so, denn sie gab sowieso keine Ruhe, bis er sich endlich noch etwas nahm. Als er auf seinen randvollen Teller blickte, fragte er sich, wie er das bloß schaffen sollte. Essen interessierte ihn nicht. Er aß nur, weil er musste. Und weil Mutter sich schämte, dass er so dünn war. Die Leute dächten doch, er bekäme nichts zu essen, pflegte sie zu sagen.
Axel dagegen. Der hatte immer einen gesunden Appetit. Während er verstohlen zu dem leeren Platz blickte, führte er widerwillig die Gabel zum Mund. Das Essen verwandelte sich in einen schweren, ungenießbaren Brei. Mechanisch bewegte er die Kiefer, um es so schnell wie möglich hinunterzuschlingen.
»Er tut nur seine Pflicht.« Hugo Frankel sah seine Ehefrau streng an, doch auch sein Blick wurde magisch von Axels Stuhl angezogen.
»Ich dachte nur, er könnte sich vielleicht ein paar Tage zu Hause ausruhen.«
»Das entscheidet er selbst. Niemand außer ihm hat darüber zu bestimmen, was er tut und was er lässt.« Hugos Stimme bebte vor Stolz, und Erik spürte wieder diesen Stich in der Brust. Daskam hin und wieder vor, wenn Mutter und Vater über Axel sprachen. Manchmal hatte Erik fast das Gefühl, unsichtbar zu sein. Als wäre er nur ein Schatten in der Familie, ein Schatten des hochgewachsenen und blonden Axel, der immer im Mittelpunkt stand, obwohl er sich überhaupt nicht darum bemühte. Lustlos stopfte er sich noch einen Bissen in den Mund. Wenn er endlich das Essen hinter sich hatte, konnte er in sein Zimmer verschwinden und lesen. Am liebsten las er Geschichtsbücher. Er liebte die vielen Fakten, Namen, Jahreszahlen und Orte. Sie waren unveränderlich, man konnte sich an ihnen festhalten und sich auf sie verlassen.
Axel hatte nie gerne gelesen. Trotzdem war er irgendwie mit den besten Zeugnissen durch die Schule gekommen. Erik hatte auch gute Noten, aber er musste sich dafür anstrengen. Ihm klopfte niemand anerkennend auf die Schulter, und von ihm wurde Freunden und Bekannten nicht voller Stolz berichtet. Mit Erik gab man nicht an.
Dennoch wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, schlecht von seinem Bruder zu denken. Manchmal wünschte er, er könnte es. Insgeheim hätte er ihn gerne gehasst und ihm die Schuld an diesem Stechen in der Brust gegeben. Aber er liebte Axel. Mehr als alles auf der Welt. Axel war stark und mutig, und er hatte es verdient, dass man mit ihm prahlte. Im Gegensatz zu ihm. Das stand fest. Wie in den Geschichtsbüchern. Es war eine unumstößliche Tatsache. So wie die Schlacht von Hastings 1066 stattgefunden hatte. Darüber konnte man nicht diskutieren, das ließ sich weder wegreden noch verändern. Es war einfach so.
Erik blickte auf seinen Teller. Zu seinem Erstaunen war er leer.
»Darf ich aufstehen, Vater?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Bist du schon fertig? Sieh mal an … Geh ruhig. Mutter und ich bleiben noch ein bisschen sitzen.«
Auf der Treppe hörte Erik die Stimmen seiner Eltern.
»Axel wird doch kein zu großes Risiko eingehen …«
»Hör endlich auf, ihn zu bemuttern, Gertrud, er ist neunzehn Jahre alt. Der Kaufmann hat übrigens heute gesagt, so einen Jungen habe er noch nie gesehen. Wir können froh sein, dass wir einen von der Sorte haben.«
Als er seine Zimmertür hinter sich schloss,
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