Engel aus Eis
kann seit Jahren nicht die Rede sein. Wir haben im Leben recht unterschiedliche Wege eingeschlagen.« Frans lächelte. »Aber ich habe Erik immer nur Gutes gewünscht, und als sich mir die Gelegenheit bot, ihn zu warnen, da habe ich sie eben ergriffen. Gewisse Leute begreifen nicht, dass man nicht immer und überall die Fäuste einsetzen sollte.«
»Ihnen selbst war es auch nicht fremd … Ihre Fäuste zu gebrauchen«, sagte Martin. »Dreimal Körperverletzung, einige Banküberfälle, und soweit ich weiß, haben Sie Ihre Strafe nicht gerade mit der Geduld eines Dalai Lama abgesessen.«
Frans ließ sich von Martins Kommentar nicht aus der Ruhe bringen, sondern lächelte bloß. In diesem Punkt hatte er doch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Dalai Lama. »Alles hat seine Zeit. Im Gefängnis gelten eigene Regeln, dort wird manchmal nur eine Sprache verstanden. Klugheit kommt mit dem Alter, habe ich gehört, und mir ist im Laufe des Lebens so manche Lektion erteilt worden.«
»Ist Ihr Enkelsohn genauso lernfähig wie Sie?«, fragte Martin, während er nach einem Keks griff, doch da ließ Frans blitzartigseine Hand vorschnellen, packte ihn eisenhart am Handgelenk und zischte mit bohrendem Blick: »Mein Enkelsohn hat damit nichts zu tun. Verstanden?«
Martin hielt seinem Blick lange Zeit stand, doch dann riss er sich los und massierte sein Handgelenk. »Tun Sie das nie wieder!«, sagte er.
Frans lehnte sich lachend zurück. Er war wieder ganz der Alte, freundlich wie ein netter Onkel. Einen Moment lang hatte sich ein Riss in der Fassade offenbart. Hinter der Ruhe verbarg sich rasender Zorn. War Erik ihm zum Opfer gefallen?
Ernst zerrte ungeduldig an der Leine. Mellberg konnte ihn nur mit Mühe halten. Er sah sich suchend um und trödelte absichtlich. Ernst verstand nicht, warum sein Herrchen sich plötzlich im Schneckentempo vorwärtsbewegte, und versuchte keuchend, dem Alten etwas Dampf zu machen.
Als Mellberg das Ende der Runde beinahe erreicht hatte, wurden seine Bemühungen belohnt. Er hatte gerade aufgeben wollen, als er hinter sich Schritte hörte. Ernst sprang überschäumend vor Freude in die Luft, als er seine Freundin entdeckte.
»Ihr geht also auch spazieren.« Ritas Stimme klang genauso fröhlich, wie er sie in Erinnerung hatte. Mellberg spürte, wie sich seine Mundwinkel lächelnd nach oben bewegten.
»Ja, das tun wir. Wir gehen spazieren.« Mellberg hätte sich am liebsten in den Hintern getreten. Was für eine dämliche Antwort. Im Beisein von Damen war er doch sonst so redegewandt … Nun stand er hier und stammelte wie ein Idiot. Er erteilte sich den Befehl, sich gefälligst zusammenzureißen, und bemühte sich um einen etwas würdigeren Ton: »Soweit ich das verstanden habe, brauchen sie unbedingt Bewegung, und daher versuchen Ernst und ich, jeden Tag mindestens eine Stunde spazieren zu gehen.«
»O ja, Bewegung tut nicht nur Hunden gut. Wir zwei können auch eine ordentliche Portion davon vertragen.« Kichernd klopfte sich Rita auf ihren runden Bauch. Mellberg fand das äußerst befreiend. Endlich eine Frau, die begriffen hatte, dass ein bisschen Fleisch auf den Rippen kein Nachteil war.
»Sicher.« Er tätschelte seine eigene umfangreiche Mitte. »Man muss nur aufpassen, dass die gewichtige Erscheinung nicht leidet.«
»Gott bewahre!« Rita lachte. Der etwas altmodische Ausdruck klang in Kombination mit ihrem Akzent entzückend. »Deshalb fülle ich die Depots anschließend sofort wieder auf.« Sie blieb vor einem Mietshaus stehen. Señorita zog es zu einem der Eingänge. »Darf ich Ihnen vielleicht einen Kaffee anbieten? Und etwas Gebäck?«
Mit einer enormen Willensanstrengung verkniff sich Mellberg einen Freudensprung und setzte eine nachdenkliche Miene auf. Dann nickte er bedächtig. »Vielen Dank, das ist gar keine schlechte Idee. Eigentlich kann ich meinem Arbeitsplatz zwar nicht so lange fernbleiben, aber …«
»Wunderbar.« Sie tippte den Nummerncode ein und ging voran. Ernst schien über keine so gute Selbstbeherrschung wie sein Herrchen zu verfügen, denn er verriet durch ausgelassenes Hüpfen, dass er überglücklich war, in die Gemächer von Señorita eingelassen zu werden.
Mellbergs erster Gedanke in Ritas Wohnung war: gemütlich! Die Wohnung war nicht in dem minimalistischen und kahlen Stil eingerichtet, den die Schweden so liebten, sondern sprühte vor Farben und Wärme. Als Ernst von der Leine gelassen wurde, raste er hinter Señorita her und stürzte sich auf ihre
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