Engel aus Eis
bereits, als sie den Kiesweg zum Haus von Erik und Axel hinaufging. Die Idee erschien ihr längst nicht mehr so gut wie am Anfang. Zögernd klopfte sie an die Tür. Da zunächst nichts zu hören war, dachte sie erleichtert, es wäre vielleicht niemand zu Hause, doch dann ertönten Schritte, und die Tür wurde geöffnet. Ihr rutschte das Herz in die Hose.
»Ja?« Axel Frankel sah müde und kaputt aus.
»Guten Tag, ich heiße Erica Falck, ich …« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Elsys Tochter.« Axel hob den Kopf und betrachtete sie mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen. Die Müdigkeit war von ihm abgefallen, und er blickte sie nun durchdringend an. »Jetzt sehe ich es. Sie und Ihre Mutter sehen sich sehr ähnlich.«
»Wirklich?« Das hatte ihr noch niemand gesagt.
»Ja, es ist etwas um die Augen. Und der Mund.« Er legte den Kopf schief und schien jedes Detail ihres Aussehens aufnehmen zu wollen. Dann machte er plötzlich einen Schritt zur Seite. »Kommen Sie rein.«
Im Flur blieb Erica stehen.
»Gehen wir auf die Veranda.« Er durchquerte den Flur und erwartete offenbar, dass Erica ihm folgte. Eilig hängte sie ihre Jacke auf und ging ihm hinterher. Er zeigte auf eine Bank auf der wundervollen Glasveranda, die gewisse Ähnlichkeit mit der hatte, die es im Haus von Erica und Patrik gab.
»Setzen Sie sich.« Er schien nicht die Absicht zu haben, sie zu fragen, ob sie einen Kaffee wolle. Nachdem sie eine Weile stumm dagesessen hatten, räusperte sich Erica.
»Ich bin gekommen …« Sie nahm einen neuen Anlauf. »Ich bin gekommen, weil ich einen Orden bei Erik abgegeben habe.« Sie merkte selbst, wie schroff sich das anhörte, und fügte hinzu: »Natürlich wollte ich Ihnen mein Beileid aussprechen. Ich …« Erica war die ganze Situation unangenehm.
Axel wischte ihre offensichtliche Verlegenheit beiseite.
»Sie erwähnten einen Orden?«
»Ja.« Erica war dankbar, dass er das Kommando übernommen hatte. »Im Frühjahr habe ich unter den Sachen meiner Muttereinen Orden gefunden. Ein Naziabzeichen. Ich hatte keine Ahnung, warum es in ihrem Besitz gewesen war, und wurde neugierig. Und da ich wusste, dass Ihr Bruder …« Sie zuckte mit den Schultern.
»Konnte mein Bruder Ihnen denn helfen?«
»Ich weiß nicht. Wir haben vor dem Sommer telefoniert, aberdann hatte ich alle Hände voll zu tun und … eigentlich wollte ich Kontakt mit ihm aufnehmen, aber …«
»Und nun möchten Sie wissen, ob der Orden noch hier ist.«
Erica nickte. »Bitte verzeihen Sie mir. Es hört sich so furchtbar an, dass ich mir darüber Gedanken mache … aber meine Mutter hat nicht viel aufbewahrt und …« Wieder rutschte sie unruhig auf der Bank hin und her. Sie hätte wirklich lieber anrufen sollen. Das Ganze kam ihr so kaltherzig vor.
»Glauben Sie mir, ich weiß genau, was Sie meinen. Es ist so wichtig, dass wir die Verbindung zu unseren Wurzeln suchen. Selbst wenn wir uns mit leblosen Gegenständen behelfen müssen. Erik hätte es ganz bestimmt auch verstanden. Er hat selbst so viel gesammelt. All diese Fakten. Für ihn waren sie nicht tot. Sie waren lebendig, erzählten eine Geschichte und konnten uns etwas lehren.«
Er starrte durch das Sprossenfenster hinaus und schien für einen Augenblick ganz weit weg zu sein. Dann wandte er sich wieder Erica zu.
»Ich werde selbstverständlich danach suchen. Aber erzählen Sie mir zunächst etwas von Ihrer Mutter. Wie war sie? Wie hat sie gelebt?«
Erica fand die Fragen sonderbar, aber da er sie so flehentlich ansah, wollte sie versuchen, sie zu beantworten.
»Tja … wie war meine Mutter? Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich es nicht. Meine Mutter war ja schon etwas älter, als sie mich und meine Schwester bekam und … keine Ahnung … wir hatten leider kein besonders gutes Verhältnis. Wie sie gelebt hat?« Erica bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. Einerseits verstand sie die Frage nicht ganz. Andererseits wusste sie nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie unternahm einen Versuch: »Genau das ist ihr wahrscheinlich ein wenig schwergefallen. Zu leben. Mir kam sie immer sehr beherrscht vor, nicht besonders … fröhlich.« Erica bemühte sich verzweifelt, es besser zu beschreiben, aber näher kam sie nicht an die Wahrheit heran. Sie konnte sich tatsächlich nicht erinnern, ihre Mutter jemals froh gesehen zu haben.
»Es tut mir weh, das zu hören.« Wieder blickte Axel aus demFenster, als könnte er sich nicht überwinden, Erica anzusehen. Sie fragte sich
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