Engel aus Eis
Tat ertappt und rief mich an. Ich bin hingefahren, um Per abzuholen. Er war durch ein Kellerfenster ins Haus eingedrungen und wollte alles Mögliche stehlen. Der Hausbesitzer hat ihn eingesperrt und drohte ihm mit der Polizei, falls er die Nummer seiner Eltern nicht rausrückt. Da hat Per ihm meine Telefonnummer genannt.« Er konnte nicht verhehlen, dass Carinas Bestürzung ihm eine gewisse Befriedigung verschaffte.
»Warum deine Nummer und nicht meine?«
Kjell zuckte mit den Schultern. »Wer weiß. Vater ist Vater.«
»Wo ist er eingebrochen?« Carina hatte anscheinend noch immer nicht verdaut, dass Per nicht bei ihr hatte anrufen wollen.
Nach kurzem Zögern beantwortete er ihre Frage. »Erinnerst du dich an den alten Mann, der vorige Woche tot in Fjällbacka aufgefunden wurde? Erik Frankel. Es war sein Haus.«
»Aber warum?« Sie schüttelte den Kopf.
»Das versuche ich dir doch gerade zu erklären! Erik Frankel war ein Experte für den Zweiten Weltkrieg und hatte jede Menge Gegenstände aus der Zeit bei sich zu Hause. Per wollte wahrscheinlich seine Kumpel mit einigen Originalsouvenirs beeindrucken.«
»Weiß die Polizei Bescheid?«
»Nein, noch nicht«, sagte er kalt. »Aber das hängt ja von …«
»Würdest du deinem eigenen Sohn so etwas antun? Ihn anzeigen?«, flüsterte Carina mit weit aufgerissenen Augen.
Plötzlich hatte er ein flaues Gefühl im Magen. Er sah sie wieder vor sich wie beim ersten Mal. Er hatte sie auf einer Party der Journalistenschule kennengelernt. Sie begleitete eine Freundin, die dort studierte, aber die war gleich mit einem Typen verschwunden. Carina landete auf einem Sofa, wo sie sich einsam und verlassen vorkam. Er verliebte sich auf Anhieb in sie. Sie trug ein gelbes Kleid und hatte ein gelbes Band in ihrem damals noch langen Haar. Es war genauso dunkel wie heute, aber es waren noch keine grauen Strähnen zu erkennen gewesen. Irgendetwas an ihr weckte seinen Beschützerinstinkt. Er wollte sie lieben und auf sie aufpassen. Noch immer sah er das Kleid vor sich, das sie bei der Hochzeit trug. Das Kleid mit den vielen voluminösen Volants und den Puffärmeln war typisch Achtzigerjahre, und auch wenn es dem heutigen Geschmack nicht mehr entsprochen hätte, fand sie es damals wunderschön. Für ihn war sie jedenfalls eine Offenbarung. Er erinnerte sich auch noch an das erste Mal, als er sie mit Per sah. Müde, ungeschminkt und in einem hässlichen OP-Hemd, aber dafür mit dem Sohn auf dem Arm, blickte sie lächelnd zu ihm auf, und er hatte das Gefühl, er könnte einen Drachen für sie töten oder eine ganze Armee besiegen.
Als sie nun dort in ihrer Küche standen wie zwei Feinde, erkannten sie in den Augen des anderen plötzlich einen Widerschein dessen, was sie damals gesehen hatten. Einen Moment lang erinnerten sie sich an Zeiten, in denen sie gemeinsam gelacht und sich geliebt hatten. Bevor ihre Liebe verblasste und zu zerbrechen drohte. Sein Herz wurde ganz weich und empfänglich, und ihm wurde noch flauer.
Er wollte die Gedanken wegwischen. »Wenn ich muss, lasse ich der Polizei diese Information zukommen«, sagte er. »Entweder wir sorgen dafür, dass Per aus diesem Umfeld herauskommt, oder die Polizei soll sich darum kümmern.«
»Du Schwein!« Carinas belegter Stimme waren all die Enttäuschungen und nicht gehaltenen Versprechen anzuhören.
Kjell stand auf und zwang sich zu einem eiskalten Gesichtsausdruck. »So ist es. Ich habe ein paar Vorschläge, wo wir Per hinschicken könnten. Sieh sie dir in Ruhe an, ich schicke sie dir per E-Mail. Und Per darf unter keinen Umständen Kontakt zu meinem Vater haben. Verstanden?«
Carina antwortete nicht, senkte jedoch den Kopf, als würde sie sich ergeben. Sie traute sich schon lange nicht mehr, Kjell zu widersprechen. An dem Tag, als er sie und ihre Liebe im Stich ließ, hatte sie sich auch selbst aufgegeben.
Kjell fuhr mit dem Auto hundert Meter und schaltete den Motor ab. Er lehnte den Kopf ans Steuerrad und schloss die Augen. Bilder von Erik Frankel flimmerten durch seinen Kopf. Er musste an das denken, was er von ihm erfahren hatte. Die Frage war nur, was er mit der Information machen sollte.
Grini, in der Nähe von Oslo, 1943
A m schlimmsten war die Kälte. Dass man immer fror. Die Feuchtigkeit saugte das letzte bisschen Wärme auf und legte sich wie eine eiskalte Decke um den Körper. Axel rollte sich auf seiner Pritsche zusammen. Die Tage in der Einzelzelle waren endlos, doch die völlige Ereignislosigkeit war ihm
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