Engel der Finsternis (German Edition)
ihr Haar. Er betrachtete ihr Gesicht, prägte sich jede Linie, jede Kontur ihres Profils ein und zeichnete die Form ihrer Wangenknochen mit seinen Fingerspitzen nach. Er schloss ihre Augen mit seinen Lippen. Ganz sanft berührte er ihre Lider mit seinem Mund. Er legte all seine Liebe in diese winzige Berührung. Dann löste er sich wieder von ihr. „Ich bin nicht wütend, sondern nur besorgt. Und jetzt geh wieder in die Höhle. Ich bin bald zurück.“ Meresin schob Franziska in Richtung der Höhle und mahnte sie zur Eile. Als sie aus seinem Blickfeld verschwand, tauchte er zwischen den Bäumen unter.
Franzi sah zum Himmel empor. Er war wolkenverhangen. Wahrscheinlich würde es bald schneien. In wenigen Stunden würden sich kein Mensch und kein Tier mehr ins Freie wagen. Sie hatte schon oft solche Winterstürme erlebt. Aber Meresin spürte die Kälte nicht. Ihm konnten weder Wind noch eisige Kälte etwas anhaben. Trotzdem machte sie sich Sorgen um ihn.
Franzi versuchte, sich abzulenken und an etwas anderes zu denken. Sie setzte sich an das Feuer, das er entzündet hatte. Obwohl die Flammen nur eine Handbreit empor züngelten und lediglich ein ganz schwaches, milchig trübes Licht erzeugten, verbreiteten sie eine angenehme Wärme. Franzi spürte weder den eiskalten Nordwind noch die Feuchtigkeit, die er hereintrug, als die ersten Schneeflocken vom Himmel fielen. Innerhalb kurzer Zeit verschwanden die Umrisse der Bäume vor der Höhle im dichten Schneetreiben. Sie rückte näher an das Feuer heran und dachte an Meresin. Und dabei ahnte sie nicht einmal im Geringsten, dass er sich noch ganz in der Nähe aufhielt.
Meresin hatte sich gerade über die Wipfel der Bäume erhoben und war im Begriff, sich auf den Weg nach Schussenweiler machen, als er unter sich im Wald Schreie hörte. Rasch schwebte er wieder lautlos zu Boden. Was er hörte, waren keine Schmerzensschreie. Das war keine der Holden Frauen. Es klang nicht wie das irre Kreischen eines gefolterten Menschen. Die Schreie stammten von einem Mann, einem wütenden Kämpfer, der den Feinden seinen Hass und seine Furchtlosigkeit ins Gesicht schleuderte.
„Kommt her ihr verfluchten Bestien! Ich fürchte euch nicht! Denkt ihr, ich laufe vor euch davon? Verrecken sollt ihr!“ Dann wieder ein Schrei, der verriet, dass der Mann getroffen oder verletzt worden war. Aber sein Kampfeswille schien ungebrochen. „War das alles?“
Grimbert kämpfte wie ein Löwe. Der Schneesturm nahm ihm nicht nur die Sicht, sondern auch den Atem. Die Kälte zerrte an seinem Körper und verursachte unerträgliche Schmerzen auf seiner eiskalten, empfindlichen Haut. Die feuchten Fetzen seines Hemdes klebten an seinem blutenden Leib. Er hatte den linken Schuh verloren und stand mit dem nackten Fuß im Schnee. Die Zehen waren schon blau verfärbt.
Immer und immer wieder teilte er Schläge aus, wie er sie einstecken musste. Die Gräfin riss an seinen Haaren, die Nonne schlug ihm mit dem Stiel ihres Besens die Vorderzähne aus. Grimbert spuckte ihr durch seine gespaltenen Lippen die blutigen Klumpen gegen die Brust und schlug sie zu Boden. Aber so sehr er sich auch wehrte, langsam schwanden seine Kräfte und die Weiber ließen einfach nicht von ihm ab.
Agreas hatte ihnen den Auftrag erteilt, ihm in den Wald zu folgen und ihn dort vor sich her zu treiben bis zum Odinshain, dem Waldstück, in dem Berchta und die Holden Weiber sich versteckten. Denn genau dort vermutete Agreas das Versteck, in dem Meresin und Franzi sich aufhielten. Wenn Franziska ihren Vater erst einmal hören würde, könnte sie sicher nicht der Versuchung widerstehen, ihr Versteck zu verlassen.
Meresin durchschaute diesen sorgfältig zurechtgelegten Plan. Er überlegte, was er tun konnte. Das Beste wäre, sich nicht zu rühren und zu warten, bis alles vorbei war. Aber das war nicht möglich. Denn Grimbert lief direkt auf die Höhle zu.
Franzi würde das Versteck verlassen, auch gegen seinen Willen. Er musste Grimbert retten, noch ehe sie ihn hören konnte. Und wenn er das tat, wüsste Agreas, wo sie sich befanden. Also musste er schnell und entschlossen handeln.
Meresin blieb keine Wahl. Er musste die Weiber töten, Grimbert mit sich nehmen und dann mit Franzi und ihrem Vater den Wald verlassen, ehe Agreas bemerkte, dass die Weiber tot waren. Schnell und möglichst lautlos musste er sie töten. Unauffällig wäre noch besser, aber das war unter diesen Umständen nicht denkbar.
Meresin verwandelte sich in einen Dämon und
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