Engel der Kindheit
öffneten ihre Lippen sich für ihn, sanft verschlossen seine Lippen ihren Mund. Alles in ihnen sehnte sich nach den zärtlichen, fordernden und leidenschaftlichen Berührungen des anderen.
Mit einer unwirklichen Intensität spürten sie sich, schenkten sich all ihre Liebe, die sie füreinander empfanden. Schmerzlich war ihnen bewusst, dass diese kostbaren Minuten, die sie zum letzten Mal vereinigen würden, Erinnerungen für ihr ganzes Leben sein mussten.
Nachdem sie die Sphären der Himmelspforte mit ihrem kostbaren Schlüssel geöffnet hatten, lag Lena schluchzend unter Nils. Mit all ihrer übermenschlichen Kraft hielt sie ihn umfangen, presste sich an ihn und wollte ihn nicht gehen lassen. Hoffnungslos verbarg Nils sein Gesicht an ihrer empfindsamen Halskuhle, sog ihren unverkennbaren, süßlich blumigen Veilchenduft ein, den nur Lena verströmte, prägte sich die Weichheit ihres Körpers ein, der unter ihm lag, ihre Hände, die ihn umklammerten, einfach alles, was ihn an sie erinnerte.
„Wir müssen aufstehen!“ Noch immer lag er auf ihr, sie wollte ihn nicht von sich lassen, noch immer weinte sie hemmungslos unter ihm. Nils, der selbst um seine Beherrschung kämpfte, fand keine Worte um sie zu trösten.
Verzagt schob er sich von ihr, nahm sie fest in seine Arme, wiegte sie und streichelte ihr Haar.
„Lena!“ Mehr konnte er nicht sagen, denn er wusste, dass er ihr nicht versprechen konnte, wiederzukommen. Bald würde sie heiraten und so gut kannte er Lena, dass er wusste, dass sie nie im Leben ihren Mann betrügen würde. Genug Schuldgefühle hätte sie schon damit, Krischan in dieser Nacht betrogen zu haben.
Erschrocken sah Nils auf die Uhr. Es war bereits acht! Ausgiebig hatten sie sich geliebt, die Zeit war wie im Flug vergangen. Mittlerweile strahlte die Sonne wärmend in das über und über verschmutzte Fenster. Schlieren getrockneter Regentropfen, die sich mit Blütenstaub und Straßendreck vollgesogen hatten und geschlängelte Wasserlinien, die durch den verkrusteten Dreck ihren Weg gesucht hatten, Vogeldreck und buntschimmernd, glitzernde Spinnenweben wurden von der Sonne angestrahlt.
„Nils!“ Sehnsuchtsvoll sahen Lenas verweinte, gerötete Augen ihn an, sie wusste, dass sie ihn gehen lassen musste. Lahm stellte sie die Füße auf den alten, zerrupften Teppichboden. Erst jetzt sah sie, wie heruntergekommen, alt und vergammelt hier alles aussah. Richtig deutend sah Nils ihren Blick, er schämte sich für sein früheres Zuhause.
Nackt stand sie auf und lief zu dem Fenster, kaum hatten die Sonnenstrahlen die Kraft, den Dreck zu durchdringen. Auf der Terrasse des Nachbarhauses sah Lena ihre Eltern und Babs frühstücken.
Dicht hinter sie trat Nils, schlang die Arme um sie und schaute ebenfalls zu der vertrauten Familie. „Zu deinen Eltern passt ein kleines Kind! Sie sehen so vertraut aus, sie strahlen eine solche Einigkeit aus. Bestimmt waren sie überrascht, als sich nochmals Nachwuchs angekündigt hat!“ Ergriffen sah Nils dem kleinen Mädchen zu, das in seinen Bewegungen ebenso anmutig und grazil war, wie Lena schon immer gewesen war. Es löffelte aus einer breiten Schale seine Frühstücksflocken, strahlte seine Eltern an und plapperte ununterbrochen. Glücklich lachten Lenas Eltern, ihre Mutter fuhr dem Blondschopf liebevoll über die Engelslocken.
„Lass uns duschen gehen!“ Jäh drehte Lena sich zu ihm um, schlang die Arme fest um Nils und schmiegte sich eng an seine Brust.
„Wir können hier nicht duschen! Früher kam nur ein Rinnsal an Wasser aus dem Hahn, heute wird gar nichts mehr herauskommen. Außerdem ist es nur kaltes Wasser, was aus der Leitung kommt!“ Verlegen blickte Nils zu Boden. Für alles schämte er sich, was dieses Haus je dargestellt hatte. Von jeher war es ein Schandfleck in der Nachbarschaft gewesen.
„Komm mit! Wir sehen uns das mal an!“ Mitfühlend erriet Lena seine Gefühle, Nils sollte sich für nichts schämen! So schlimm konnte es bestimmt nicht sein!
Schleifend zog sie ihn hinter sich her, wusste nicht, wo sich das Badezimmer befand und öffnete wahllos die angrenzenden Türen. Voll Fäulnis schlug ihnen ein modriger, feuchter Geruch entgegen. Hässlich wucherte im Badezimmer der graugrüne Schimmel an den Wänden und der Decke. Verdreckt war die alte, freistehende Zinnbadewanne, weiße Kalkreste und schmierige Dreckränder am Wannenrand wirkten abstoßend, doch Lena griff mutig nach der Handbrause und öffnete den quietschenden Wasserhahn.
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