Engel der Kindheit
Rücken trat Tom zu Nils, der die Holzbrücke erreichte, die ihn an Land brachte.
„Ja! Ich hoffe sogar, dass ich Sven überreden konnte, sich hier sesshaft zu machen!“ Das Heben und Senken des Schiffes, das ihm so vertraut geworden war und das er nun zum letzten Mal unter seinen Füßen spürte, würde er vermissen.
„Komm mit! Ich stell´ dich Samuel Rodney vor! Der Bruder unseres Käpt’n! Ich denke, er kann dir weiterhelfen! Du bist ein schlaues Bürschchen!“ Ohne darüber ein Wort zu verlieren hatte Tom die Intelligenz von Nils bewundert, mit der er die Dinge angegangen war. Des Öfteren hatte er Nils gebeten, die Auswertungen des Logbuchs zu übernehmen. Akribisch genau hatte dieser die Aufzeichnungen ausgewertet, die Tom nun Samuel Rodney übergeben würde.
Lässig warf Nils seinen Seesack über die rechte Schulter und schritt hinter Tom her.
„Herr Rodney!“ Augenblicklich stand Tom stramm vor einem stattlichen Herren mit ergrauten Schläfen und buschigen, schwarzen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren. Darunter blitzten messerscharfe, stahlgraue Augen, die Tom und seinen Begleiter ansahen, wie wenn er beide durchleuchten wollte. Eine gebogene Hakennase und streng zusammengepresste, liniendünne Lippen ließen ihn aussehen, wie den klischeehaften Kommissar in einem Krimi.
„Tom Langwaid!“ Durch ein leichtes, arrogant wirkendes Kopfnicken gab Samuel Rodney zu verstehen, dass Tom und Nils ihre strammstehende Haltung verändern sollten.
„Gestatten Sie mir, Ihnen Nils Keller vorzustellen! Er hat in Hamburg angeheuert, sich als tapferer Seemann bewiesen und möchte hier Fuß fassen. Seinen Abiturabschluss hat er bestanden, in Deutschland hätte er Schiffsbau studieren können! Die Auswertungen des Logbuchs sind überwiegend von ihm! Ich dachte, ich sollte ihn Ihnen vorstellen!“ Kurz und knapp, ohne Ausschmückungen, gelangte Tom zum Ziel seiner Ausführung.
„Sehen Sie das flache Gebäude? Dahinter befindet sich mein Büro! Kommen Sie in einer halben Stunde dorthin! Pünktlich!“ Mit einem leicht überheblichen Kopfnicken verabschiedete Samuel Rodney sich und wand sich Tom zu, der Nils aufmunternd auf die Schulter klopfte.
Gut gelaunt nahm Nils seinen Seesack und sah sich nach Sven um, der am Ende des langen Piers neben seinem Seesack stand.
In alle Himmelsrichtungen verteilte sich die Mannschaft, ein Rufen und Johlen drang von überallher an Nils Ohren.
„In einer halben Stunde soll ich zu Samuel Rodney kommen! Wie sieht’s aus, kommst du mit?“ Auffordernd blickte Nils seinen Freund an, dem er die Angst vor diesem Schritt ansah.
„Mann, Nils! Ich habe die Schule geschmissen! Ich habe keinen Abschluss! Was soll aus mir werden, außer Matrose?“
Betreten sah er zu Boden. Rückhaltlos bewunderte er den Freund, sich in einem völlig fremden Land niederlassen zu wollen, aber für ihn war es aussichtslos.
„Du gehörst doch nicht auf ein Schiff, ebenso wenig wie ich! Komm, zu zweit schaffen wir es!“ Die Euphorie in Nils Stimme riss Sven mit, der tatsächlich viel lieber an Land bleiben würde, als weiterhin über die Weltmeere zu segeln.
„Ich werde versuchen einen Job zu bekommen. Wenn das klappt, werde ich es mir überlegen!“ Einen beinahe kämpferischen Ausdruck nahmen Svens hellgraue Augen an. Seine blonden Haare und den Oberlippenbart trug er kurzgeschnitten. Zum ersten Mal, seit sein Stiefvater sich an ihm vergangen hatte, hatte er Vertrauen zu einem Menschen gefasst.
Neugierig sah Nils sich in dem Hafengelände um. Unzählige, prächtige und meist schneeweiße Segeljachten lagen hier vor Anker. Zwischen einem dichten Wolkengürtel stahlen sich heiße Sonnenstrahlen hindurch. Mittlerweile war der zweiundzwanzigste Dezember, also kurz vor Weihnachten, und auf dieser Seite der Erdhalbkugel brütend warm. Der laue Wind trug feuchte, schweißtreibende Luft in sich, an die Nils und Sven in den letzten Monaten gewöhnt worden waren.
Gemütlich setzten sie sich an die aus dunklem Naturstein erbaute, moosbewachsene Hafenmauer und ließen ihre Beine bis zu dem Schlick hinunter baumeln, wie Nils es früher in Hamburg immer getan hatte. Unter ihnen schwappten die Wellen an die ausgehöhlten Mauersteine.
Nervös zündete Sven sich eine Zigarette an und bot Nils eine aus seiner Packung an. Verneinend schüttelte Nils den Kopf, fasste in seine linke Brusttasche und holte seine eigene Packung hervor. An Bord hatte er mit dem Rauchen begonnen. Routinemäßig klopfte
Weitere Kostenlose Bücher