Engel Der Nacht
Der Brief enthielt höchstwahrscheinlich eine Verwarnung.
»Hast du heute Abend etwas vor? Haben du und Vee irgendetwas geplant? Vielleicht einen Videoabend hier im Haus?«
»Vielleicht. Ehrlich, Dorth, ich kann das Waschbecken nachher saubermachen. Komm, setz dich zu mir … und iss die andere Hälfte von meinem Bagel.«
Dorotheas grauer Dutt war bereits in Auflösung begriffen, so heftig schrubbte sie. »Ich gehe morgen zu einer Tagung«, sagte sie. »In Portland. Dr. Melissa Sanchez spricht. Sie sagt, man könnte allein durch Denken sexyer werden. Hormone seien machtvolle Drogen. Solange wir ihnen nicht sagen, was wir wollen, schießen sie immer zurück. Sie arbeiten gegen uns.« Dorothea drehte sich um und zeigte mit der Ajaxdose auf mich, um ihre Worte zu unterstreichen. »Jetzt wache ich morgens auf und schreibe mit rotem Lippenstift auf meinen Spiegel. ›Ich bin sexy‹, schreibe ich. ›Männer begehren mich. Fünfundsechzig ist das neue Fünfundzwanzig‹.«
»Glaubst du, das funktioniert?«, fragte ich und musste mich sehr anstrengen, um nicht zu lächeln.
»Es funktioniert«, sagte Dorothea nüchtern.
Ich leckte die Butter von meinen Fingern, schindete Zeit auf der Suche nach einer passenden Antwort. »Also, dann wirst du das Wochenende damit verbringen, deine sexy Seite neu zu erfinden.«
»Jede Frau muss ihre sexy Seite neu erfinden. Mir gefällt das. Meine Tochter hat Implantate. Sie sagt, sie hätte es für sich selbst gemacht, aber welche Frau lässt sich Brüste für sich selbst machen? Sie sind eine Last. Sie hat sich die Brüste
für einen Mann machen lassen. Ich hoffe, du machst so was Dummes nicht für einen Mann, Nora.« Sie wedelte mit dem Zeigefinger.
»Vertrau mir, Dorth, in meinem Leben gibt’s keine Jungs.« Okay, vielleicht lauerten da zwei irgendwo am Rande, kreisten in der Ferne, aber da ich keinen von beiden gut kannte und einer davon mir regelrecht Angst einjagte, fühlte es sich sicherer an, die Augen vor ihnen zu verschließen und so zu tun, als gäbe es sie gar nicht.
»Das ist einerseits gut, andererseits schlecht«, sagte Dorothea tadelnd. »Wenn man den Falschen nimmt, gibt’s Ärger. Aber findest du den Richtigen, erlebst du die Liebe.« Ihre Stimme wurde weich, während sie sich in Erinnerungen verlor: »In Deutschland, als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte ich die Wahl zwischen zwei Jungen. Einer war ein wirklich seltsamer Kerl. Der andere war mein Henry. Wir waren einundvierzig Jahre glücklich verheiratet.«
Zeit, das Thema zu wechseln. »Äh … wie geht’s denn deinem Patenkind … Lionel?«
Sie riss die Augen auf. »Du interessierst dich für den kleinen Lionel?«
»Neiiiin.«
»Ich kann da was arrangieren …«
»Nein, Dorothea, wirklich. Vielen Dank, aber - ich muss mich jetzt wirklich auf meine Noten konzentrieren. Ich möchte auf ein erstklassiges College gehen.«
»Wenn du später mal …«
»Dann werde ich es dich wissen lassen.«
Zu der Geräuschkulisse von Dorotheas monotonem Geplauder aß ich meinen Bagel auf, nickte hin und wieder oder sagte »hm-hm«, wann immer sie lange genug schwieg, um auf meine Antwort zu warten. Ich rang noch mit mir, ob ich mich am Abend wirklich mit Elliot treffen sollte. Anfangs
hatte es sich nach einer tollen Idee angehört. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Zweifel beschlichen mich. Zum einen kannte ich Elliot erst seit ein paar Tagen. Zum anderen war ich mir nicht sicher, was meine Mom von diesem Arrangement halten würde. Es wurde spät, und bis zum Delphic war es mindestens eine halbe Stunde Fahrt. Außerdem stand der Delphic in dem Ruf, dass es an den Wochenenden dort ganz schön hoch herging.
Das Telefon klingelte, und Vees Nummer wurde angezeigt.
»Machen wir irgendwas heute Abend?«, wollte sie wissen.
Ich wog meine Antwort sorgfältig ab. Wenn ich Vee erst einmal von Elliots Angebot erzählt hätte, gäbe es kein Zurück mehr.
Plötzlich quietschte Vee: »O, Mann! O Mannomann, o Mannomann. Jetzt hab ich Nagellack auf dem Sofa verschüttet. Warte mal, ich muss ein paar Küchentücher holen. Ist Nagellack wasserlöslich?« Einen Augenblick später kam sie zurück. »Ich glaube, ich habe das Sofa ruiniert. Wir müssen heute Abend ausgehen. Ich möchte weit weg sein, wenn mein neuestes Kunstwerk aus dem Bereich Spontane Malerei entdeckt wird.«
Dorothea war nach unten ins Badezimmer gegangen. Ich hatte keine Lust, den ganzen Abend ihrem Gemoser über die Badezimmerausstattung zu
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