Engel Der Nacht
viel sicherer fühlen.
»Ich wollte mit dir über etwas reden«, sagte meine Mutter und riss mich aus meinen Gedanken, »aber ich bin nicht sicher, ob der richtige Moment dafür jemals kommt.«
Ich runzelte die Stirn. »Was ist los?«
Sie stieß einen langen, besorgten Seufzer aus. »Ich denke darüber nach, das Haus zum Verkauf anzubieten.«
»Was? Warum?«
»Wir haben uns jetzt ein Jahr lang abgemüht, aber ich kann nicht so viel verdienen, wie ich gehofft hatte. Ich habe daran gedacht, einen Zweitjob anzunehmen, aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, ob der Tag genug Stunden dafür hat.« Sie lachte freudlos. »Dorotheas Gehalt ist bescheiden, aber es ist trotzdem eine Extraausgabe, die wir uns eigentlich nicht leisten können. Die einzige Möglichkeit, die mir
einfällt, ist, dass wir in ein kleineres Haus ziehen. Oder eine Wohnung.«
»Aber das hier ist unser Zuhause.« All meine Erinnerungen waren hier. Die Erinnerung an meinen Vater war hier. Ich konnte nicht glauben, dass sie nicht genauso empfand. Ich würde alles tun, was in meiner Macht stand, damit wir hierbleiben konnten.
»Drei Monate warte ich noch. Aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen.«
Da wusste ich, dass ich meiner Mutter nicht von dem Kerl mit der Skimaske erzählen konnte. Sie würde sofort kündigen und einen Job vor Ort annehmen, und dann hätten wir keine andere Möglichkeit, als das Farmhaus zu verkaufen.
»Lass uns über etwas Schöneres reden«, sagte Mom und bemühte sich um ein Lächeln. »Wie war das Abendessen?«
»Gut«, sagte ich mürrisch.
»Und Vee? Erholt sie sich gut?«
»Sie kann morgen wieder in die Schule gehen.«
Mom lächelte ironisch. »Wie gut, dass sie sich den linken Arm gebrochen hat. Sonst könnte sie im Unterricht gar nicht mitschreiben, und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie schlimm das für sie wäre.«
»Haha«, sagte ich. »Ich mache heiße Schokolade.« Ich stand auf und zeigte über meine Schulter in die Küche. »Willst du auch welche?«
»Das klingt genau richtig. Ich mache inzwischen Feuer.«
Nach einem schnellen Gang in die Küche auf der Suche nach Becher, Zucker und den Kakaobehälter kam ich zurück und sah, dass Mom einen Heißwasserkessel auf den Holzofen gestellt hatte. Ich hockte mich auf die Sofalehne und gab ihr einen Becher.
»Woher wusstest du, dass du in Dad verliebt warst?«, fragte ich und gab mir Mühe, beiläufig zu klingen. Es bestand
immer die Gefahr, dass es größeres Tränenvergießen auslöste, wenn ich Dad erwähnte, und das wollte ich vermeiden.
Mom machte es sich auf dem Sofa bequem und legte ihre Füße auf den Couchtisch. »Ich wusste es gar nicht. Nicht bevor wir fast ein Jahr verheiratet waren.«
Das war nicht die Antwort, die ich erwartet hatte. »Aber … warum hast du ihn denn geheiratet?«
»Weil ich dachte, ich wäre verliebt. Und wenn du denkst, du bist verliebt, dann bist du bereit, weiterzumachen und daran zu arbeiten, dass es funktioniert, bis es dann wirklich Liebe wird.«
»Hattest du Angst?«
»Ihn zu heiraten?« Sie lachte. »Das war der aufregendere Teil. Das Brautkleid aussuchen, die Kapelle reservieren, meinen Solitär tragen.«
Ich stellte mir Patchs durchtriebenes Lächeln vor. »Hast du jemals vor Dad Angst gehabt?«
»Jedes Mal, wenn die New England Patriots verloren hatten.«
Jedes Mal, wenn die Patriots verloren hatten, war Dad in die Garage gegangen und hatte den Motor seiner Kettensäge aufheulen lassen. Im Herbst vor zwei Jahren hatte er die Kettensäge in den Wald hinter unserem Haus geschleppt, zehn Bäume gefällt und sie zu Feuerholz zersägt. Wir haben immer noch über die Hälfte des Stapels übrig.
Mom klopfte neben sich auf das Sofa, und ich schmiegte mich an sie, den Kopf an ihrer Schulter. »Ich vermisse ihn«, sagte ich.
»Ich auch.«
»Ich habe Angst, dass ich vergesse, wie er ausgesehen hat. Nicht auf Fotos, sondern an einem Sonntagmorgen in seinem Jogginganzug beim Rühreimachen.«
Mom verflocht ihre Finger mit meinen. »Du warst ihm immer schon sehr ähnlich, von Anfang an.«
»Wirklich?« Ich setzte mich auf. »Inwiefern?«
»Er war ein guter Schüler, sehr klug. Nicht auffallend oder forsch, aber die Leute respektierten ihn.«
»Kam Dad dir jemals … geheimnisvoll vor?«
Mom schien hin und her zu überlegen. »Geheimnisvolle Menschen haben eine Menge zu verbergen. Dein Vater war sehr offen.«
»War er je rebellisch?«
Sie stieß ein kurzes, alarmiertes Lachen aus. »Hast du ihn denn so
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