Engel Der Nacht
gehisst worden wäre. »Ist das nicht an der Küste draußen? Dicht am Delphic Seaport? War da nicht vor ein paar Jahren mal eine Schießerei im Bo’s?«
»Es ist jetzt zahmer als früher«, sagte Patch. Ich kniff die Augen zusammen und sah ihn an. Er hatte meinen Plan vermasselt. Der war gewesen, ganz und gar zu leugnen, dass es im Bo’s jemals gewalttätige Vorfälle gegeben hatte.
»Möchtest du auf ein Eis hereinkommen?«, fragte meine Mutter, wobei sie etwas verwirrt klang, so als ob sie hinund hergerissen wäre zwischen Höflichkeit und dem Impuls, mich ins Haus zu ziehen und die Tür zu verriegeln. »Wir haben nur Vanille«, fügte sie hinzu, um ihm das Angebot etwas zu verleiden. »Und es ist schon ein paar Wochen alt.«
Patch schüttelte den Kopf. »Ich muss los. Vielleicht ein andermal. Schön, Sie kennen gelernt zu haben, Blythe.«
Ich nahm die Gesprächspause zum Anlass, meine Mutter zur Haustür zu ziehen, erleichtert darüber, dass es hätte
schlechter ausgehen können. Da drehte meine Mutter sich plötzlich um.
»Was haben Nora und du heute Abend gemacht?«, fragte sie Patch.
Patch sah mich an und zog seine Augenbrauen nur ganz leicht hoch.
»Wir haben in Topsham zu Abend gegessen«, antwortete ich schnell. »Sandwiches und Sprudel. Ein ganz harmloser Abend.«
Das Problem war nur, dass meine Gefühle für Patch alles andere als harmlos waren.
NEUNZEHN
I ch ließ die Schneekugel in ihrer Schachtel und steckte sie in meinen Kleiderschrank hinter einen Stapel Argyle-Pullover von meinem Vater, die ich an mich genommen und behalten hatte. Als ich das Geschenk in Patchs Gegenwart geöffnet hatte, hatte Delphic Seaport schimmernd und schön ausgesehen, das Licht hatte die Drähte wie Regenbogen schimmern lassen. Aber jetzt, allein in meinem Zimmer, sah der Vergnügungspark verwunschen aus. Ein idealer Ort für körperlose Geister. Und ich war mir nicht ganz sicher, ob da drin nicht eine versteckte Kamera angebracht war.
Nachdem ich in ein enges Hemd und geblümte Schlafanzughosen geschlüpft war, rief ich Vee an.
»Und?«, fragte sie. »Wie war’s denn? Offenbar hat er dich nicht umgebracht, das ist mal ein guter Anfang.«
»Wir haben Billard gespielt.«
»Du hasst Billard.«
»Er hat mir ein paar gute Tipps gegeben. Jetzt, wo ich weiß, was ich tue, finde ich es gar nicht so übel.«
»Ich wette, er kann dir auch in ein paar anderen Bereichen deines Lebens gute Tipps geben.«
»Hmm.« Normalerweise hätte ihr Kommentar mich peinlich berührt, aber ich war in zu ernster Stimmung. Tatsächlich war ich schwer am Arbeiten; ich dachte nach.
»Ich weiß, ich habe das schon mal gesagt, aber Patch weckt in mir nicht gerade entspannte Gefühle«, sagte Vee. »Ich habe immer noch Albträume von dem Typen mit der
Skimaske. In einem meiner Albträume reißt er sich die Skimaske ab, und rate mal, wer sich darunter versteckt? Patch. Ich persönlich glaube, du solltest mit ihm umgehen wie mit einer geladenen Waffe. Irgendetwas an ihm ist nicht normal.«
Genau das war es, worüber ich sprechen wollte.
»Was würde eine V-förmige Narbe auf einem Rücken verursachen?«, fragte ich sie.
Einen Moment lang herrschte Stille.
»Freak«, würgte Vee heraus. »Du hast ihn nackt gesehen? Wo ist es passiert? In seinem Jeep? In deinem Zimmer?«
»Ich habe ihn nicht nackt gesehen! Es war eine Art Unfall.«
»O ja, diese Entschuldigung habe ich schon mal gehört«, sagte Vee.
»Er hat eine riesige, V-förmige Narbe auf seinem Rücken. Ist das nicht unheimlich?«
»Natürlich ist es das; aber wir reden hier von Patch. Bei dem sind ein paar Schrauben locker. Ich rate einfach mal so vor mich hin und sage … Gangschlägerei? Gefängnisnarben? Spuren von einem Unfall mit Fahrerflucht?«
Eine Hälfte meines Hirns versuchte, sich auf meine Unterhaltung mit Vee zu konzentrieren, aber die andere, mehr unterbewusste, schweifte ab. Meine Erinnerung kehrte zurück zu dem Abend, an dem Patch mich dazu herausgefordert hatte, im Erzengel zu fahren. Ich sah die unheimlichen und bizarren Gemälde an den Seiten der Wagen und erinnerte mich an die gehörnten Tiere, die dem Engel die Flügel herausrissen. Ich erinnerte mich an das schwarze, umgekehrte V an der Stelle, wo die Flügel des Engels gesessen hatten.
Das war der Moment, in dem ich beinahe das Telefon fallen ließ.
»Entschuldige, was?«, fragte ich Vee, als mir klar wurde, dass sie weitergesprochen hatte und jetzt auf meine Antwort wartete.
»Was. Ist. Dann.
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