Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
mich doch sehr, ich wollte noch mehr von ihr hören. Doch sie war nicht ganz bei der Sache, ihr Verlangen nach mir lenkte sie ab; sie betrachtete mich eingehend, mein Haar, meine Haut. Sie trauerte tief um Esther, doch diese Trauer lag in Fehde mit einem grundlegenden menschlichen Bedürfnis.
    Ich genoss ihre Blicke.
    Wenn ich dieses Stadium meiner Materialisierung erreicht ha-be, wenn ich so sichtlich lebenssprühend bin, fällt den Menschen an mir genau das auf, was ihnen auch ins Auge fiele, wenn ich ein real existierender Mann wäre, dem sein irdisches Leben von Gott verliehen wurde. Ihnen fällt meine ausgepräg-te Stirn auf und meine schwarzen Augenbrauen, die mir diesen grüblerischen Ausdruck verleihen, selbst wenn ich lächle, und sie sehen meinen kindlich geformten Mund mit den Lippen, die zwar babyhaft schmollen, aber dennoch breit sind über dem eckigen Kiefer. Sie sehen diesen Anflug eines Kin-dergesichts trotz der stark geformten Knochen, und Augen, die stets bereit zum Lachen sind.
    Rachel fühlte sich von diesen Attributen heftig angezogen, und das entfachte wieder diese merkwürdige Erinnerung an längst vergangene Menschen, die etwas unendlich Wichtiges sagten, und jemand bemerkte: ›Wenn es schon getan werden muss, könnten wir wohl jemanden finden, der schöner wäre! Jemand, der dem Gott ähnlicher sieht?‹
    Das Auto steigerte während seiner Fahrt durch die leeren Straßen seine Geschwindigkeit. Keine weiteren Motorengeräusche waren zu hören, und auf den Gehwegen New Yorks raschelten die Blätter dürrer, armseliger Bäumchen im Wind, wie Opfergaben standen sie vor den majestätischen Gebäuden. Aus Stein und Stahl waren die Elemente dieser Stadt, und wie leicht zerstörbar dagegen doch die Blätter wirkten, wenn der Wind sie vor sich hertrieb - klein, farblos, verloren.
    Der Fahrer erhöhte die Geschwindigkeit abermals. Wir befuh-ren jetzt eine sehr breite Straße, und ich konnte den Fluss noch deutlicher riechen. Gestank überlagerte zwar den süßen Duft des Wassers, dennoch überkam mich großer Durst. Als ich diesen Fluss in Gregorys Wagen überquert hatte, hatte ich von Durst nichts bemerkt. Jetzt aber war ich sehr durstig. Das bedeutete, dass mein Körper inzwischen wirklich stark war.
    ›Wer du auch immer sein magst‹, meldete sich Rachel wieder zu Wort, ›ich sage dir eines: Wenn wir das Flugzeug erreichen, ohne dass uns jemand aufhält - und mir scheint, wir schaffen es -, dann brauchst du dir dein Leben lang keine Sorgen mehr zu machen.‹
    ›Gib mir lieber noch ein paar Erklärungen zu dem Collier‹, sagte ich sanft.
    ›Gregory hat eine Vergangenheit, es gibt da eine Vorgeschich-te, von der niemand etwas weiß, und als Esther dieses Collier kaufte, stolperte sie sozusagen über seine Vergangenheit. Sie kaufte die Kette von einem chassidischen Juden, der Gregory aufs Haar glich. Und dieser Mann erzählte ihr, dass er Gregorys Zwillingsbruder sei.‹
    ›Ja, sicher. Nathan!‹, sagte ich. ›Ein Chassid, und er ist einer von den Diamantenhändlern.‹
    ›Nathan! Du kennst ihn?‹
    ›Nun, ich kenne ihn nicht persönlich, aber ich kenne seinen Großvater, er ist ein Rabbi, und Gregory ging zu ihm, um herauszufinden, was Esthers letzte Worte bedeuteten.‹
    ›Wer ist ein Rabbi?‹
    ›Sein Großvater, Gregorys Großvater. Der Rabbi heißt Avram, aber sie haben irgendeine besondere Bezeichnung für ihn.
    Hör zu, du hast gesagt, Esther stolperte über Gregorys Vergangenheit, sie kam durch Zufall darauf, dass er aus dieser großen Familie in Brooklyn stammt.‹
    ›Eine große Familie?‹
    ›Ja, sehr ausgedehnt, eine chassidische Gemeinde, ein richtiger Clan. Du weißt nichts darüber?‹
    ›Ha‹, sagte sie, sich in den Sitz zurücklehnend, ›ich wusste, da war eine Familie, das habe ich aus ihren Streitereien entnommen. Aber sonst wusste ich kaum etwas. Er und Esther hatten sich ständig in den Haaren, weil sie das mit seiner Verwandtschaft herausgekriegt hatte. Es ging nicht nur um den Bruder, der ihr die Kette verkauft hatte. Meine Güte, da war also ein noch größeres Geheimnis! Könnte es sein, dass er sie beseitigen ließ, weil sie über seinen Bruder und seine Familie Bescheid wusste?‹
    ›Da gibt es nur ein Problem.‹
    ›Und das wäre?‹
    ›Warum sollte Gregory seine Herkunft verheimlichen wollen?
    Ich war dabei, als er den Rabbi besucht hat, seinen Großvater, und da war es der Rabbi, der um Geheimhaltung bat. Und die Chassidim haben Esther bestimmt nicht

Weitere Kostenlose Bücher