Engel der Verdammten
gelungen. Er kennt höchstwahrscheinlich nichts anderes als Kampf, Herrschaft und Unterwerfung. Für viele Menschen ist das Leben auch nicht anders.‹
›O ja, ich weiß‹, sagte ich.
›Geh nun hinüber zu dem Wasserkrug‹, sagte Zurvan. ›Trink.
Trinken kannst du, wann immer dir der Sinn danach steht.
Dein übernatürlicher Körper wird durch das Wasser nur noch stärker. Das gilt für alle Geister. Sie lieben Wasser und haben ein großes Verlangen nach Feuchtigkeit. Aber das habe ich dir schon gesagt. Beeile dich. Ich habe eine Aufgabe für dich.‹
Das Wasser schmeckte wirklich köstlich, und die Menge, die ich trank, hätte ein normaler Mensch niemals schlucken können. Als ich schließlich den Krug abgesetzt hatte, war ich bereit für neue Befehle.
›Ich möchte‹, sagte Zurvan, ›dass du mitten durch diese Wand hindurch in den Garten gehst und wieder zurück, und zwar sollst du dabei deinen Körper behalten. Du wirst einen Widerstand verspüren, aber das soll dich nicht kümmern. Die Partikel deines Körpers bestehen aus einer anderen Substanz als die der Mauer, deshalb kannst du, ohne Schaden anzurichten, durch diese Partikel hindurchgleiten. Das sollst du nun so lange üben, bis du weißt, dass du jeden festen Gegenstand ohne Zögern durchdringen kannst.‹
Mir erschien das ganz einfach. Ich durchquerte Türblätter und meterdicke Wände, ich schritt durch massive Säulen und Mö-
belstücke hindurch. Jedes Mal spürte ich zwar die schwirren-den Partikel, aus denen das Hindernis bestand, doch rief das keinen Schmerz hervor, und ich brauchte nichts als meine Willenskraft, um den natürlichen Instinkt, der mich davor zu-rückweichen ließ, zu überwinden.
›Bist du erschöpft?‹
›Nein‹, antwortete ich.
›Gut so; hier ist dein erster richtiger Auftrag‹, verkündete Zurvan. ›Geh zum Haus des griechischen Händlers Lysander, in der Straße der Schriftgelehrten. Aus seiner Bibliothek stiehlst du sämtliche Manuskripte und bringst sie zu mir. Du wirst den Weg wohl viermal machen müssen. Am besten behältst du dafür deinen irdischen Körper. Wenn dich jemand sieht, ignoriere ihn. Und denke daran: Damit die Schriftrollen durch die Mauern gehen, musst du sie innerhalb deines Körpers - dazu zählt auch dein Gewand - transportieren. Du musst sie darin einschließen. Sollte sich das als zu schwierig erweisen, dann benutze die Türen. Wer immer dich angreift... er kann dich nicht verletzen.‹
›Soll ich denn tätlich werden?‹
›Nein, tu das nicht, außer es wäre jemand, der die Macht hat, dich zurückzuhalten. Normalerweise werden die Dolche und Schwerter der Angreifer wirkungslos durch dich hindurchgleiten. Nur wenn jemand nach den Schriftrollen greift, die ja materiell sind, musst du ihn abwehren. Doch sei dabei nicht so ...
grob. Oder ... wie es dir passt. Mache es davon abhängig, wie sehr die Person dich provoziert. Ich überlasse es dir.‹
Er hob seinen Stift und begann zu schreiben. Dann merkte er, dass ich mich nicht vom Fleck gerührt hatte.
›Was ist?‹, fragte er.
›Ich soll stehlen?‹
›Asrael, mein Gewissenhafter, du, mein junger Geist, alles in Lysanders Haus ist Diebesgut! Er raffte das alles zusammen, als die Perser durch Milet zogen. Der größte Teil seiner Bü-
chersammlung hat mir gehört. Er ist ein schlechter Mensch.
Wenn du willst, kannst du ihn töten. Das ist mir einerlei. Sieh jetzt zu, dass du fortkommst und die Bücher beschaffst. Tu, was ich dir sage, und stell mir nicht noch einmal solche Fragen.‹
›Also wirst du niemals von mir verlangen, dass ich Arme beraube oder Bekümmerte noch tiefer kränke oder Armselige und Schwache in Furcht versetze.‹
Er hob den Kopf. ›Asrael, das hatten wir doch alles schon.
Deine Worte klingen wie die pompösen, sich in endlosen Va-riationen wiederholenden Inschriften unter den Statuen der assyrischen Könige.‹
›Ich wollte deine Zeit nicht mit weitschweifigen Fragen verschwenden‹, sagte ich.
›Ich bin einzig und allein an ordentlichem Betragen interessiert‹, gab er zurück. ›Erinnere dich doch an meine Lehren. Ich liebe selbst diese lästigen kleinen Geister, die sich hier unter meinem Dach zu meiner Verfügung bereit halten; Lysander jedoch ist bösartig, er stiehlt und verkauft um des Profits willen, und er kann nicht einmal lesen.‹
Meine Aufgabe erwies sich als einfach genug. Ich brauchte die Diener nur ein wenig durchzuschütteln, und schon waren sie aus dem Weg. Und ich benötigte
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