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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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nur drei Ausflüge, um den gesamten Inhalt der Bibliothek zu meinem Gebieter zu bringen. Schwierig war es nur, mit den sperrigen Manuskriptbündeln durch die Türen zu gleiten. Es gelang mir einfach nicht, sie innerhalb meines übernatürlichen Körpers durch verschlossene Türen zu schaffen. Aber nach und nach wurde ich doch geschickter im Umgang mit ihnen. Tatsächlich lernte ich sogar etwas, das Zurvan mir nicht gesagt hatte, nämlich, dass ich, um die Schriftrollen besser dann unterzubringen, diesen Körper durchscheinend machen und in die Länge ziehen konnte. In dieser Form durchdrang ich die solidesten Wände, nahm anschließend wieder Größe und Gestalt eines normalen Menschen an und wanderte mit meinem Bündel davon.
    Um Zurvan offen und ehrlich zu zeigen, was ich konnte, machte ich es auf meinem letzten Abstecher so: Ich ging mitten durch die Wand seines Studierzimmers, indem ich mich, den letzten Teil meiner heimlichen Beute im Arm, weit ausdehnte und dann, als ich das Bündel vor ihm niederlegte, wieder meine normale Form annahm.
    Er sah mich mit festem Blick an, und in dem Moment wurde mir etwas klar: Wieder und wieder hatte ich ihn, seit ich zu ihm gekommen war, in Erstaunen versetzt. Und mit diesem Blick tarnte er seine Verblüffung. Er zeigte keinerlei Furcht.
    ›Nein, ich habe keine Furcht vor dir‹, sagte er, indem er meine Gedanken aufnahm, ›aber du hast Recht: Es ist nicht meine Angewohnheit, weder als Magus noch als Gelehrter oder als Mensch, Verblüffung zu zeigen oder zu schreien.‹
    ›Und nun, Gebieter?‹, fragte ich.
    ›Zieh dich zurück in die Gebeine, und komm erst wieder hervor, wenn du mich hörst... meine Stimme hörst, die dich ruft.
    Es reicht nicht, nur meine Träume oder meine Gedanken aufzufangen.‹
    ›Ich werde mich bemühen, Herr‹, sagte ich.

    ›Es würde mich enttäuschen, wenn du nicht gehorchst; du bist zu jung und zu mächtig, als dass man dich unkontrolliert herumlaufen lassen könnte. Du kränkst mich zutiefst, wenn du erscheinst, sobald ich nur an dich denke.‹
    Wieder fühlte ich, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.
    ›Deshalb werde ich es nicht tun, Herr‹, sagte ich und zog mich in die Gebeine zurück. Ehe sich meine Augen schlossen, sah ich für einen Sekundenbruchteil die Truhe vor mir, sah, dass sie in ein Versteck gebracht worden war, in eine Wandnische.
    Dann, ehe ich in den schwarzen, samtenen Schlaf sank, nur noch ein kurzer Gedanke: ›Ich liebe ihn, und ich will ihm dienen.‹
    Als ich am nächsten Morgen erwachte, rührte ich mich nicht vom Fleck. Mir schien, ich lag endlos lange wartend in der Dunkelheit, fühllos für alles Physische, bis ich endlich ganz klar und deutlich Zurvans Stimme hörte. Ich reagierte sofort auf seinen Ruf.
    Erneut öffnete sich mir die lichte, helle Welt. Ich saß im Garten, von Blumen umgeben. Dort war auch Zurvan; er lag auf einem Ruhebett und las, sein Haar war wirr, und er gähnte, als habe er die Nacht dort unter den Sternen verbracht.
    ›Nun, dieses Mal habe ich abgewartet‹, meldete ich mich.
    ›Ah, also warst du schon erwacht, bevor ich dich rief?‹
    ›Ja, aber ich habe abgewartet, um dich zu erfreuen. Übrigens ist ein winziger Teil meiner Erinnerung zurückgekehrt, dazu muss ich dich etwas fragen.‹
    ›Frage. Ich werde dir nichts vormachen, wenn ich die Antwort nicht wissen sollte.‹
    Darüber musste ich fürchterlich lachen! Irgendwo hatte ich trotz meines beinahe völligen Gedächtnisverlusts die feste Überzeugung gespeichert, dass Priester und Meister der Magie hemmungslose Lügner waren. Er nickte, zufrieden mit dieser Vorstellung.
    ›Deine Frage?‹
    ›Habe ich eine Bestimmung, bin ich für etwas ausersehen?‹
    ›Das ist eine merkwürdige Frage. Wie kommst du darauf, dass überhaupt jemand eine feste Bestimmung hat? Wir leben unser Leben, und irgendwann sterben wir. Das sagte ich doch.

    Es gibt nur einen Schöpfer, einen Gott, und wie man ihn nennt, tut nichts zur Sache. Unsere Bestimmung - unser aller Bestimmung - ist es, Liebe zu geben und größere Wertschätzung, tiefere Einsicht für alles Irdische zu erlangen. Warum sollte das für dich anders sein?‹
    ›Aber das ist es ja gerade. Ich sollte doch für etwas Spezielles bestimmt sein, oder nicht?‹
    ›Der Glaube, eine besondere Bestimmung zu haben, auser-wählt zu sein, ist eine der am weitesten verbreiteten Unheil bringenden Vorstellungen in dieser Welt. Man reißt Königinnen ihren unschuldigen Säugling von der

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