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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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hatte sie erreicht.
    »Ich begrüße Sie, Dr. Haller.« Seine Brillengläser beschlugen wieder vor Erregung. »Nongkai erwartet Sie.« Und leiser: »Es ist alles noch unbegreiflich.«
    »Das glaube ich, mein Lieber.« Haller klopfte Doktor Butoryan auf die Schulter. »Sie bleiben mein Stellvertreter, Butoryan.«
    Der kleine, dickliche Arzt senkte den Kopf und blickte Haller über den Rand der Brille an. »Ich wollte um meine Entlassung bitten, Herr Kollege.«
    »Auf gar keinen Fall! Warum auch?«
    »Ich habe bei der Abstimmung, ob man Sie auspeitschen lassen soll, auch die Hand gehoben. Ich habe mein Gepäck mitgebracht, es liegt im Jeep.«
    »Ausgepeitscht?« Dr. Haller drehte sich zu Donyan und Siri um. »Hat man in Nongkai jemanden ausgepeitscht? Wissen Sie was darüber, Oberst?«
    »Nein, Doc«, sagte Donyan.
    »Und du, Siri?«
    »Nongkai war immer ein friedliches Dorf. So etwas gibt es bei uns nicht«, sagte sie klar und bestimmt.
    »Na bitte.« Haller wandte sich wieder Dr. Butoryan zu. Der putzte mit bebenden Fingern die Brille an seinem Baumwollhemd, das ihm über die Hose hing. »Was wollen Sie eigentlich, Butoryan?«
    Dr. Butoryan setzte seine Brille wieder auf, starrte Haller mit zuckendem Gesicht an und zog die Unterlippe zwischen die Zähne.
    »Jetzt begreife ich manches«, sagte er, drehte sich auf dem Absatz herum und lief, so schnell es seine kurzen, stämmigen Beine vermochten, zu den zusammengetriebenen Leprösen, die noch immer wie eine Hammelherde herumstanden.
    Aus dem Hubschrauber wurde jetzt eine Kiste gehoben. Sechs Soldaten hatten Mühe, sie vorsichtig auf den Boden zu setzen. Sie schwitzten dabei und keuchten unter der Last. Oberst Donyan, der schon im Hospitaljeep hinter dem Steuer saß, tippte Dr. Haller auf den Rücken.
    »Haben Sie Ihren Grabstein mitgebracht?« fragte er sarkastisch.
    »Nein.« Haller lächelte wie jemand, dem eine große Überraschung gelungen ist. »Eine Glocke für die Kirche von Nongkai.«
    »Eine was?« Donyan lehnte sich auf das Lenkrad und drückte dabei die Hupe herunter. Erschrocken fuhr er zurück.
    »Eine Glocke. Mit einem schönen, vollen Ton. Sie klingt herrlich!« Dr. Haller half Siri in den Jeep und schwang sich neben Donyan auf den Vordersitz. Drei Soldaten brachten die Koffer vom Hubschrauber. »Ich hatte es der Gemeinde von Nongkai versprochen.«
    Donyan ließ den Motor an. »Ich denke, Sie glauben nicht an Gott?« sagte er dabei.
    »Was hat eine Glocke mit meinem Glauben zu tun? Die anderen glauben und rufen mit ihr Gott. Das ist die Hauptsache!«
    »Sie sind ein fürchterlicher Lügner, Doc!« Donyan fuhr an, nachdem man die Koffer neben Siri in den Jeep geworfen hatte. »Ein Himmelhund von einem Lügner!«
    »Genau das bin ich!« Dr. Haller lehnte sich in dem Segeltuchsitz zurück. »Drücken Sie aufs Gas, Donyan. Das hindert Sie, weiter so dämlich zu fragen.«
    Hüpfend und springend jagte der kleine Jeep über die schmale Straße hinein in den Dschungel. Der Geruch von Fäulnis und Schimmel fiel wieder über sie her und saugte sich an ihnen fest. Von Westen her schoben sich braungraue Wolken wie eine Mauer aus geballten Fäusten über die Sonne.
    Regenzeit.
    Der Küster auf dem Dach der Kirche konnte sie noch nicht sehen, aber da man sie ›weitergereicht‹ hatte, von Militärposten zu Militärposten, die das Nahen der Autokolonne mit ihren Sprechfunkgeräten der nächsten Station meldeten, hatte Bürgermeister Minbya bereits den lange erwarteten Wink bekommen und ihn ins Dorf weitergegeben.
    Der Küster atmete tief ein, setzte den ausgehöhlten Kürbis an den Mund, hielt ihn mit beiden Händen fest, lehnte sich gegen das neue Türmchen und stieß die angestaute Luft in das Instrument.
    Durch die langen Reihen der seit drei Stunden Wartenden lief ein jubelnder Aufschrei wie Feuer an der Lunte. Von den Dächern der Hütten fielen lange weiße Tücher herab, entrollten sich Spruchbänder und selbstgemalte Bilder. Vor der Veranda des Verwaltungsgebäudes, auf der Taikkys Lieblingsplatz gewesen war, hing ein großes, mit dem Farbbrei verschiedener Pflanzen und Wurzeln gemaltes Porträt von Dr. Haller. Ein kindliches Gemälde, an dem vierzehn Frauen und Männer gearbeitet hatten, bis Minbya sagte: »Jawohl, es sieht ihm ähnlich. Er wird sich darauf erkennen! Wir sind ja keine Künstler.«
    Im Hospital hatten die Pfleger und Schwestern rund um die Uhr gearbeitet. Die Schwerkranken waren gewaschen und neu verbunden worden, die Stationen blitzten vor

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