Engel der Vergessenen
sich ein Schuß löste. Dann schnellte der Tiger vor und hieb seine Pranken in den linken Oberschenkel des aufbrüllenden Mannes.
Fast gleichzeitig schossen die Soldaten. Sie kamen einen Wimpernschlag zu spät. Unter der Wucht des Aufpralls wurde Dr. Karipuri mehrere Meter weit geschleudert, die Krallen des Tigers in seinem Körper. Als er ins Wasser klatschte, drückte ihn der Leib des toten Tigers in den Fluß, als sei es der letzte Gedanke des Tieres gewesen, diesen Menschen mitzunehmen in die Dunkelheit.
Die Kranken befanden sich in gutem Zustand. Das sah Dr. Haller sofort, als er die Krankensäle des alten Hospitals abschritt und die ambulanten Patienten überblickte, die sich auf der Straße in einer langen Schlange angesammelt hatten und nun geduldig stundenlang warten würden.
»Zuerst die Neueingänge!« sagte Dr. Haller, nachdem er die flüchtige Visite beendet hatte. Dr. Butoryan und Dr. Kalewa hatten die dringendsten chirurgischen Fälle schon Tage vorher versorgt. In den Hütten des Dorfes herrschten Sauberkeit und Hygiene, soweit dies hier überhaupt möglich war. Ein Dr. Sansopur hatte in Hallers Abwesenheit angeordnet, daß jede Hütte eine Fäkaliengrube haben mußte, in der die Abfälle und der Kot gesammelt wurden, um dann mit Chlorkalk bestreut zu werden. Hölzerne Deckel verschlossen diese Gruben.
Auch das Problem des fließenden Wassers hatte man gelöst – seit einer Woche arbeiteten neue Generatoren und erzeugten genug Strom, um Nongkai elektrisches Licht und elektrische Kraft zu bescheren. Sie trieben auch eine Wasseraufbereitungsanlage an, von der sauberes Trinkwasser durch unverrottbare Kunststoffleitungen gepumpt wurde.
»Wir haben nicht gefaulenzt, Dr. Haller«, sagte Dr. Butoryan stolz, als man Haller nach der Visite diese Neuerungen vorweg mit kurzen Worten schilderte.
Zur Besichtigung war keine Zeit; die Neueingänge mußten versorgt werden, sie waren angekommen wie in den Urzeiten der Leprabekämpfung, schmutzig, mit eiternden Geschwüren, unterernährt, verängstigt, nachdem man sie aus den entlegenen Winkeln, in die sie sich verkrochen hatten, herausgeholt hatte. Daß gesunde Menschen sich um sie kümmerten, war für sie ein unbegreifliches Wunder. Nun warteten sie draußen, wie eine Herde Schafe im Gewitter, dicht zusammengedrängt und staunend über dieses Nongkai, von dem sie geglaubt hatten, es sei der Endpunkt ihrer Höllenfahrt: das große Massengrab.
»Ihr habt fabelhaft gearbeitet, Jungs«, sagte Haller. Pala brachte die lange Gummischürze, Siri stand schon im septischen OP und richtete den Instrumententisch her. Es war, als habe sich nichts geändert, als lägen keine schweren Monate zwischen damals und heute. Und doch fehlte etwas. Haller suchte danach, während Pala ihm die Schürze umband und eine Schwester die antiseptische Lösung für die letzte Handwaschung vorbereitete. Die anderen Ärzte verließen in Gruppen den Vorraum des OP und gingen zu ihren Stationen oder begannen mit den Hausbesuchen. Jeder hatte einen Bezirk, für den er verantwortlich war. Dr. Butoryan, der nach Karipuris Flucht die Leitung der Lepra-Kolonie fest in seine Hände genommen hatte, war mitten in der völligen Umorganisation Nongkais vom Wiedererscheinen Dr. Hallers überrascht worden. Für ihn war Nongkai eine richtige kleine Stadt mit Ärzten und ihren Patienten. Erst wenn die Fälle kritisch wurden, wies man die Kranken ins Hospital ein.
Das war alles hervorragend, und doch fehlte Haller etwas. Als er zur Tür blickte, ganz instinktiv, wußte er es plötzlich: Es kam kein Taikky mehr herein. Es gab keinen Karipuri mehr, der sich spöttisch neben die Tür lehnte und in die Operation hinein sagte: »Daß Ihre Hände nach so viel Alkohol nicht zittern …«
Ja, das fehlte plötzlich: der Kampf!
Das tägliche Umsichschlagen.
Der sich immer wieder erneuernde Zorn auf Gemeinheit und Korruption, dieser stampfende Motor, der ihn stets mit neuer Kraft auflud.
Noch in Rangun war es so gewesen. Als 10-Kyat-Arzt im stinkenden Zimmer von Chin-hao-Chin hatte er nur ein Ziel gekannt: heraus aus dem Dreck, sich einen Namen machen in der Stadt, vordringen an die Stelle, wo man seiner Wahrheit glaubte, Rache nehmen an Taikky und Karipuri. Das war alles gelungen, und nun fand er sich in einer Welt wieder, die er selbst geschaffen hatte und die so steril, so alltäglich geworden war, daß er sich wie in einem luftleeren Raum vorkam.
Es gab keine Spannungen mehr, und er ahnte, daß nur diese
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